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Silbermantel

Titel: Silbermantel
Autoren: Guy Gavriel Kay
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waren, dass man an den Feuern dörflicher Schenken Trinksprüche auf sie ausbrachte. Neue Bündnisse wurden geschlossen, neue Kriege ausgefochten, um alte Wunden zu heilen, glänzende Siege überdeckten vergangene Niederlagen, Großkönig folgte auf Großkönig, einige durch Erbfolge, andere durch die Macht des Schwertes. Und die ganze Zeit, während der kleinen und der großen Kriege, während des Waltens starker wie schwacher Herrscher, während der langen, blühenden Jahre des Friedens, als die Straßen sicher waren und die Ernten reich, die ganze Zeit lag der Berg in seinem Schlummer, denn die Riten der Wachtsteine blieben durch alle Veränderungen erhalten. Die Steine wurden bewacht, die Naalfeuer geschürt, und nie kam das entsetzliche Warnzeichen, dass Ginserats Steine sich von Blau zu Rot verfärbten.
    Und unter dem ungeheuren Berg, Rangat Wolkenstemmer, im windumtosten Norden, wand sich ein Wesen in Ketten, bis an den Rand des Wahnsinns vom Hass zerfressen, doch immer eingedenk, dass die Wachtsteine davon künden würden, falls es seine Kräfte einsetzte, sich loszureißen.
    Aber der Eingeschlossene konnte warten, denn er war der Zeit nicht unterworfen, nicht dem Tod. Er konnte über seiner Rache und seinen Erinnerungen brüten – denn er erinnerte sich an alles. Er konnte die Namen seiner Feinde in Gedanken um und um wenden, ganz so, wie einst seine krallenbewehrte Hand mit der blutverschmierten Halskette Ra-Termaines gespielt hatte. Aber vor allem konnte er warten, während die Menschengeschlechter sich wie das Sternenrad drehten, während die Sterne selbst unter der Last der Jahre ihre Bahnen verlagerten. Dereinst würde kommen eine Zeit, da die Wachsamkeit nachließ, da einer der fünf Wächter strauchelte. Dann konnte er im Verborgenen seine Kräfte walten lassen, um Hilfe herbeizurufen, und kommen würde der Tag, da Rakoth Maugrim frei in Fionavar wandelte.
    Und es vergingen tausend Jahre unter der Sonne und den Sternen der ersten aller Welten …



Kapitel 1
     
    Während der Mußestunden, die in den folgenden Ereignissen beinahe untergingen, erhob sich immer wieder die Frage nach dem Warum. Warum gerade sie? Darauf gab es eine einfache Antwort, die mit Ysanne zu tun hatte am Ufer ihres Sees, aber damit war die Frage in ihrer tieferen Bedeutung nicht wirklich angesprochen. Wurde sie danach gefragt, pflegte Kimberly, die Weißhaarige, zu sagen, im nachhinein könne sie ein verschwommenes Muster erkennen, aber man muss keine Seherin sein, um im Rückblick das Webmuster des Gewirks zu erkennen, und Kim war ohnehin ein Sonderfall.
     
    Da nur noch die Lehrveranstaltungen der Fachsemester im Gange waren, hätten die Höfe und schattigen Pfade des Universitätsgeländes von Toronto Anfang Mai eigentlich menschenleer sein müssen, besonders an einem Freitagabend. Dass dies beim größten der freien Plätze nicht der Fall war, sprach für das Urteilsvermögen der Organisatoren der Zweiten Internationalen Keltenkonferenz. Indem sie ihren Zeitplan auf die Bedürfnisse bestimmter prominenter Redner abgestimmt hatten, waren sie das Risiko eingegangen, dass ein Großteil ihres Zielpublikums bei Konferenzbeginn möglicherweise längst in die Semesterferien gegangen war.
    Den Sicherheitsbeamten am hell erleuchteten Eingang des Auditorium Maximum wäre genau das wahrscheinlich recht gewesen. Aufgeregt wie das Publikum eines Rockkonzerts hatte sich eine erstaunliche Zahl von Studenten und Akademikern eingefunden, um den Mann zu hören, dem zuliebe die Konferenz hauptsächlich so spät einberufen worden war. Lorenzo Marcus sollte an jenem Abend einen Vortrag halten und eine Podiumsdiskussion leiten, für dieses zurückgezogen lebende Genie der allererste öffentliche Auftritt, und die erlauchten Räumlichkeiten des Auditoriums würden bis auf den letzten Stehplatz gefüllt sein.
    Die Wachen suchten nach verbotenen Tonbandgeräten und winkten die Inhaber von Eintrittskarten durch, mit wohlwollendem oder ungnädigem Gesicht, wie es ihrer jeweiligen Wesensart entsprach. Dem grellen Licht des Eingangsbereichs ausgesetzt und von der wogenden Menge umlagert übersahen sie die dunkle Gestalt, die im Schatten der Eingangsveranda direkt außerhalb des Lichtkegels kauerte.
    Einen Augenblick lang beobachtete die verborgene Gestalt die Menge, dann wandte sie sich rasch und geräuschlos ab und glitt um die Ecke des Gebäudes. Dort, wo die Dunkelheit beinahe vollkommen war, blickte sie einmal über die Schulter und begann mit
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