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Sieben Siegel 09 - Tor zwischen den Welten

Sieben Siegel 09 - Tor zwischen den Welten

Titel: Sieben Siegel 09 - Tor zwischen den Welten
Autoren: Kai Meyer
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als sie unter Wasser einen Blick auf die Unterkörper der Nymphen erhaschte. Wo eben noch die schlanken Schenkel wunderschöner Frauen gewesen waren, umspielt von feinster Seide, sah sie nun verschobene Gliedmaßen aus kantigem, dunklem Horn, übersät von Spitzen und Knorpelsträngen, so als hätte ein wahnsinniger Schöpfer versucht, aus Insektenbeinen menschliche Glieder zu formen. Die Knie knickten nicht nach vorn, sondern nach hinten ein, und statt auf Füßen standen die Kreaturen auf weit verzweigten Fächern aus Krallen und Knochen wie schwarzes Wurzelwerk. Nur über der Oberfläche hatten sie noch immer ihr altes Aussehen – unter Wasser aber trat ihr wahres Wesen zu Tage.
    Kyra erschrak dermaßen, dass sie sich einen Moment lang nicht mehr unter Kontrolle hatte, panisch die Luft ausstieß und den überwältigenden Drang verspürte, einzuatmen. Sie schoss nach oben, holte tief Luft – und erkannte, dass sie endgültig verloren war.
    Die Nymphen hatten sie von allen Seiten umzingelt.
    Mit bedrohlicher Ruhe wurde ihr Kreis immer enger und enger.
     
    Auf den Bahngleisen saß ein Hund.
    Er saß genau zwischen den Schienen und blickte der Lokomotive mit rot glühenden Augen entgegen. Sein Fell war schneeweiß; im Nacken stand es aufrecht. Der Hund hatte die Zähne gefletscht, ganz leicht nur, kaum merklich. Er knurrte nicht, und sein langer weißer Schwanz lag nach Westen ausgerichtet, genau in die Fahrtrichtung des Zuges.
    Der Lokführer hatte die Bahn vor etwa zehn Minuten zum Stehen gebracht, in einer abrupten Notbremsung. Auf der schnurgeraden Strecke hatte er das unheimliche Tier gerade noch rechtzeitig erkannt, um den Antrieb zu stoppen. In letzter Sekunde bevor es zu einem Zusammenstoß kommen konnte, war der Zug stehen geblieben. Und seitdem hatte er sich nicht mehr bewegt. Genauso wie der Hund.
    »Mir gefällt das nicht«, murmelte Nils, der mit Lisa und Chris neben der Tür zum Führerhaus stand und übellaunig auf das weiße Tier mit den leuchtend roten Augen starrte. »Das ist doch kein normaler Hund. Nie im Leben!«
    »Ach nein?«, machte Lisa zynisch und hielt ihm die Sieben Siegel auf ihrem Unterarm vor die Nase. » Natürlich ist es kein normaler Hund, du Schlauberger. Sonst hätten sich die hier ja wohl kaum bemerkbar gemacht.«
    Nils brummte etwas in ihre Richtung. Seine Schwester war nicht allzu unglücklich, dass sie es nicht verstand.
    Chris schaute düster über die menschenleere Landschaft, die sich rechts und links der Bahngleise erstreckte: ein welliger Ozean aus Heidekraut und struppigem Gras, ohne Anzeichen einer Besiedlung, ohne Straßen oder auch nur ein Hinweisschild auf den nächsten Vorposten der Zivilisation. Ein Moor, so groß, dass in keiner Richtung ein Ende auszumachen war.
    »Ganz schön karg«, kommentierte er, und sein Tonfall klang dabei ebenso trist wie das Panorama der Moorlandschaft.
    Nils verzog das Gesicht. »Ein einzelner Hund hält uns hier fest, und du schaust dir die Gegend an.«
    »Von wegen!«, meinte Lisa und deutete nach vorn. »Da kommen noch mehr.«
    Tatsächlich tauchten jetzt noch weitere der schneeweißen Tiere auf, so als hätten die sumpfigen Moorlöcher sie ausgespien. Hinter ihnen war Nebel aufgezogen, eine weiße, dichte Suppe, die langsam auf den stillstehenden Zug zukroch.
    »Kommen sie aus dem Nebel?«, fragte Chris, aber eigentlich war es bereits eine Feststellung, keine Frage.
    »Hey, ihr drei!«, ertönte hinter ihnen die Stimme des Zugführers. Er lehnte sich mit schmerzverzerrtem Gesicht aus dem Fenster seiner Lokomotive. Der notdürftige Verband um seine rechte Hand war mit Blut gesprenkelt. Dort hatte ihn der Hund gebissen, als der Mann versucht hatte, ihn von den Schienen zu locken. Seitdem hatte sich außer den drei Freunden niemand mehr ins Freie gewagt. »Los«, rief er noch einmal, »ihr solltet jetzt wirklich reinkommen.«
    »Ich glaube, er hat Recht«, sagte Nils. Die Hunde in der Ferne kamen rasch näher. Es waren mindestens acht, aber so genau ließ sich das vor der hellen Nebelwand nicht erkennen.
    »Weiße Hunde mit glühend roten Augen«, knurrte Chris nachdenklich.
    »Und roten Ohren«, ergänzte Lisa, denn das Innere der aufgestellten Ohren des Hundes glomm in einem feurigen Rot wie die Glut in einem ausgebrannten Kohlenfeuer.
    Chris nickte. »Irgendwoher kommt mir das bekannt vor.«

»Die Dämonenhunde der Kelten«, sagte Nils. »Ich hab euch davon erzählt, als wir losgefahren sind.« Er hatte sich bereits seit einigen
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