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Sieben Siegel 06 - Die Nacht der lebenden Scheuchen

Sieben Siegel 06 - Die Nacht der lebenden Scheuchen

Titel: Sieben Siegel 06 - Die Nacht der lebenden Scheuchen
Autoren: Kai Meyer
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Augenhöhlen. Zähne von der Farbe schmutziger Kieselsteine.
     

    »Uuh!«, machte Nils.
    »Igitt!«, entfuhr es Kyra.
    »Buäh«, brummte Chris.
    Allein Lisa blieb still. Sie konnte nur in die beiden dunklen Augenhöhlen starren, zwei Schlünde, die keinen Boden, keine Rückwand zu besitzen schienen, nur Tiefe, Tiefe, Tiefe.
    Dann wanderte Lisas Blick ein wenig höher, und sie entdeckte den Nagel.
    Auf den ersten Blick sah er aus wie ein seltsames Schmuckstück, das man auf der Stirn des Totenkopfes angebracht hatte. Eine metallische Plakette vielleicht, nicht größer als die Spitze von Lisas kleinem Finger. Dann aber erkannte sie, dass es tatsächlich die Kuppe eines langen Nagels war, den irgendwer in den Schädel getrieben hatte, etwa drei Zentimeter über der Spitze der dreieckigen Nasenöffnung.
    »Seht ihr das?«, flüsterte Lisa.
    Kyra nickte nachdenklich. Sie kämpfte mit dem Drang, einfach vorzuspringen und den Nagel genauer unter die Lupe zu nehmen.
    »Da ist irgendwas in die Oberfläche geritzt«, sagte Kyra und blinzelte, um das Muster besser erkennen zu können.
    »Stimmt«, sagte auch Chris. »Es sieht aus wie ’ne Art Gravur im Kopf des Nagels.«
    »Kann einer von euch erkennen, was das ist?«, wollte Lisa wissen, obwohl es dazu eigentlich viel zu dunkel war.
    Kyra bückte sich im Gestrüpp seitlich der Gleise und kratzte einen Klumpen lehmiger Erde auf. Diesen formte sie zu einer glatten Kugel.
    »Gib mir mal den Stock«, bat sie Chris.
    Sie nahm den Zweig und spießte die Kugel oben auf die Spitze. Dann trat sie weit genug vor, um mit Stock und Lehmkugel einen Abdruck des Nagels zu nehmen. Es gelang ihr auf Anhieb, ohne dass sie die Scheuche berühren musste.
    Als sie den Ast zurückzog und die Kugel vorsichtig löste, konnte sie den Umriss der Gravur genauer betrachten. Eigentlich war es kein ungewöhnliches Muster – einfach nur ein Kreis mit einem Stern oder einer Sonne in der Mitte. Trotzdem spürten alle, dass es damit eine besondere Bewandtnis hatte.
    Jetzt, da sie überzeugt waren, eine erste Spur zur Lösung des Rätsels gefunden zu haben, wichen sie erleichtert einige Schritte zurück. Sie brachten zehn Meter zwischen sich und die Scheuche, ehe sie wieder stehen blieben.
    Während Kyra, Lisa und Chris noch einmal einen Blick auf den Lehmabdruck des Nagels warfen, schaute Nils über die wogenden Grashügel im Nachtlicht Richtung Giebelstein.
    »Ist das nicht Kropf?«, fragte er plötzlich.
    Tatsächlich lief in einiger Entfernung eine winzige Gestalt über einen Hügelkamm. Kein Zweifel, es war tatsächlich der alte Schäfer.
    »Der torkelt aber ganz schön«, sagte Lisa.
    »Der wird sich erst mal einen genehmigt haben«, pflichtete Chris ihr bei.
    Nach einigem Hin und Her kamen sie überein, dass der alte Schäfer sich von selbst wieder beruhigen würde. Es war gewiss besser, ihn in Frieden zu lassen. Außerdem konnten sie seine Trauer um die arme Henrietta durchaus nachempfinden.
    Als die vier sich wieder zu der Scheuche umwandten, war sie näher gekommen.
    Es war keine Täuschung.
    Die Vogelscheuche war auf sie zugerückt. Mindestens vier oder fünf Meter. Die Entfernung zwischen ihr und den Freunden war nur noch halb so groß wie vor wenigen Augenblicken.
    »Aber … das ist doch unmöglich«, keuchte Chris.
    Nils nickte. »Sie hat ja nicht mal Beine! «
    »Habt ihr gesehen, wie sie sich bewegt hat?«, fragte Kyra und blickte in die Runde. »Ich meine, wie sie sich tatsächlich vorwärts bewegt hat?«
    Die anderen schüttelten die Köpfe. Kropf hatte sie alle abgelenkt.
    »Okay«, meinte Chris. »Das reicht fürs Erste. Hauen wir ab.«
    Lisa atmete insgeheim auf. Wenn selbst Chris die Knie schlotterten, musste sie sich für den Eisklumpen in ihrem Magen nicht schämen.
    »Morgen früh«, murmelte Kyra in Gedanken.
    »Was ist morgen früh?«, erkundigte sich Nils, ohne den Blick von der reglosen Scheuche zu nehmen.
    Kyra hob die Lehmkugel mit dem Abdruck.
    »Morgen früh finden wir raus, was es damit auf sich hat.« Sie zögerte kurz, dann fügte sie hinzu:
    »Ich weiß, wer uns vielleicht mehr darüber sagen kann.«
     
    In dieser Nacht träumte Kyra von einem Spiegel.
    Es war ein großer Spiegel, er reichte ihr fast bis zum Kinn. Sein breiter Rahmen glänzte goldfarben, altertümliche Verzierungen waren darin eingelassen.
    Kyra betrachtete ihr Bild in der Oberfläche. Es sah falsch aus – nicht verzerrt, wie in den gewellten Jahrmarktsspiegeln, sondern einfach nur anders. Kühler.
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