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Sieben Siegel 06 - Die Nacht der lebenden Scheuchen

Sieben Siegel 06 - Die Nacht der lebenden Scheuchen

Titel: Sieben Siegel 06 - Die Nacht der lebenden Scheuchen
Autoren: Kai Meyer
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Abend beschlossen, der Kieselwiese in der Nacht einen zweiten Besuch abzustatten. Keinem war wohl dabei, und jeder von ihnen hätte lieber daheim im warmen Bett gelegen und alle Dämonen dieser Welt Dämonen sein lassen. Aber nein, so lief das nicht. Es ging wieder los. Und niemand konnte etwas daran ändern.
    Nachts war der Weg über die Weiden nicht ganz so angenehm wie bei Tag. Die Halme der Gräser bogen sich unter schweren Tautropfen.
    Schon nach wenigen hundert Metern waren die Schuhe der Freunde durchnässt, und alle froren erbärmlich an den Füßen. Auch war es im Dunkeln schwierig, den Schlaglöchern und Bodenwellen auszuweichen. Ganz zu schweigen von den Kuhfladen, mit denen Nils schon am Abend Bekanntschaft gemacht hatte.
    Schließlich aber erreichten sie die Kieselwiese. Als Erstes fiel ihnen auf, dass das tote Schaf nicht mehr im Gras lag. Nachdem der Tierarzt den Kadaver begutachtet hatte, war die arme Henrietta wohl abtransportiert worden. Immerhin blieb den Freunden dadurch der neuerliche Anblick des Tierkadavers erspart.
    Aber auch die Vogelscheuche war verschwunden.
    »Wo steckt sie nur?«, flüsterte Chris. Sein Blick streifte über die umliegenden Hügelkuppen. Ein kühler Ostwind knickte die Halme und raschelte in den dunklen Hecken.
    »Hat sich vielleicht zum Schlafen hingelegt«, flachste Nils.
    Lisa verdrehte die Augen. »Wahnsinnig witzig, wirklich.«
    »Nicht wahr?«
    Auch Kyra schenkte Nils einen strafenden Blick. »Seid doch mal still! Guckt lieber, ob ihr sie irgendwo anders sehen könnt.«
    »Woanders?«, fragte Nils. »Wie soll sie denn woanders hingekommen sein?«
    »Vielleicht ist sie gelaufen«, erwiderte Lisa, aber sie meinte es nicht als Scherz. Ganz im Gegenteil.
    Die vier schauten einander an. Jeder suchte ein Grinsen oder auch nur Schmunzeln in den Mundwinkeln der anderen. Aber keinem war nach Späßen zu Mute. Was Lisa gesagt hatte, musste wohl oder übel in Betracht gezogen werden. Schließlich hatte der Anblick der Vogelscheuche die Siegel sichtbar gemacht. Keine gewöhnliche Scheuche hätte eine solche Reaktion hervorgerufen.
    »Dann lag Kropf tatsächlich richtig, meint ihr?«, sprach Nils aus, was alle dachten. »Die Vogelscheuche hat das Schaf getötet?«
    Kyra hob die Schultern. »Bis wir ’ne bessere Lösung gefunden haben, sieht’s wohl so aus.«
    Nils schluckte. »Wow.«
    »Das ist grausam«, flüsterte Lisa tonlos, so, als befürchte sie, die Scheuche könnte sie im Gras versteckt belauschen.
    »Das waren die Hexen auch«, gab Chris zurück. »Und Abakus. Und der schwarze Storch. Und all die anderen Viecher.«
    »Also eine lebende Vogelscheuche«, sagte Kyra entschieden. Die Tatsachen laut auszusprechen beruhigte sie ein wenig. Es war immer leichter, wenn man wusste, mit was für einem Gegner man es zu tun hatte.
    »Da!«, stieß Lisa aus. »Auf dem Bahndamm.«
    Es war der verrückteste Platz, den man sich für eine Vogelscheuche hätte vorstellen können – und dennoch hatte Lisa Recht.
    Dort oben, hoch auf den von Brombeersträuchern gesäumten Schienen, stand die Scheuche. Stumm. Starr. Die Schwärze unter ihrer zerfledderten Hutkrempe schien die Blicke der vier Freunde anzusaugen wie ein Strudel. Es fiel schwer, sich von dem geisterhaften Umriss abzuwenden und einen klaren Gedanken zu fassen.
    »Und was jetzt?«, fragte Nils zaghaft.
    »Was wohl?« Kyra gab sich einen Ruck und versuchte, ihrer Stimme einen entschlossenen Klang zu geben. »Wir gehen hin.«
    »Um genau so zu enden wie Henrietta?«
    »Hast du ’ne bessere Idee?«
    »Nicht im Moment.«
    »Kommt«, mischte Chris sich ein. »Bringen wir’s hinter uns. Hier rumzustehen hat ja nun erst recht keinen Sinn.«
    Nils rümpfte die Nase. »Jede Minute, die wir hier rumstehen, ist vielleicht eine Minute, die wir länger am Leben bleiben.«
    Lisa knuffte ihn gegen die Schulter. »Los jetzt!«
    Nils stöhnte, dann schloss er sich den drei anderen an. Gemeinsam eilten sie über die Kieselwiese, erreichten die Hecke an ihrer Nordseite und kletterten durch das Gestrüpp. Jenseits davon erhob sich der Bahndamm, steil und lehmig. Sie hatten ihn auf dem Weg zum Hügelgrab schon unzählige Male erklommen, doch jetzt erschien ihnen der Aufstieg viel mühsamer als sonst. Vielleicht war das aber auch nur ihr Unterbewusstsein, das ihnen eine letzte Warnung zukommen ließ.
    Geht nicht dort hinauf! Haut ab von hier! Verschwindet augenblicklich!
    Sie erreichten die alten Gleise an einer Stelle, die etwa zwanzig Meter von
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