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Sieben Siegel 06 - Die Nacht der lebenden Scheuchen

Sieben Siegel 06 - Die Nacht der lebenden Scheuchen

Titel: Sieben Siegel 06 - Die Nacht der lebenden Scheuchen
Autoren: Kai Meyer
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jenem Platz entfernt lag, an dem sich die Scheuche auf einem einzelnen, dürren Pfahl erhob.
    Die stählernen Schienenstränge waren schon vor Jahrzehnten stillgelegt worden. Keine Waggons fuhren mehr entlang dieser Strecke. Nur manchmal, wenn sie starken Ostwind hatten, klang es, als nähere sich ein Geisterzug aus der Ferne. Es waren nur Geräusche, gewiss, aber keiner der Freunde war besonders scharf darauf, in einem solchen Augenblick hier oben zu stehen. Denn wer konnte schon absolut sicher sein, ob da nicht doch etwas näher kam, irgendetwas, das mit vernichtender Gewalt über die Gleise donnerte, unsichtbar und dennoch tödlich.
    Heute Nacht aber schien die einzige Bedrohung von der gespenstischen Vogelscheuche auszugehen, die zwischen zwei verrotteten Holzbohlen aus dem Gleisbett emporstach. Ihre Arme waren weit ausgestreckt; sie bildeten eine Waagerechte, dürr und knöchern, umspielt vom Geflatter uralter Stofffetzen. Ihr einziges Bein war der Pfahl, auf dem sie ruhte. Der breitkrempige Hut war tief ins Gesicht gezogen, aber im schwachen Schein des Mondes ließ sich sogar aus der Entfernung erkennen, dass der Kopf darunter mit etwas Dunklem, Grobem bespannt war. Einem Leinensack, vielleicht.
    »Ich geh näher ran«, beschloss Chris.
    Kyra und Lisa folgten ihm. Auch Nils schloss zu ihnen auf. Die Neugier war jetzt größer als ihre Furcht. In ihren Köpfen regte sich die ermutigende Erinnerung an frühere Triumphe über Bestien, die weit gefährlicher ausgesehen hatten als diese Vogelscheuche. Sie würden schon mit ihr klarkommen, jawohl, das würden sie bestimmt! Und wenn wir uns das alle nur lange genug einreden, dachte Lisa sarkastisch, werden wir schon noch selbst daran glauben.
    »Riecht komisch«, flüsterte Nils, als sie bis auf vier Schritte an das knöcherne Wesen aus Holz und Stoff herangekommen waren.
    »Muffig«, stimmte Kyra ihm zu.
    »Ich hab mal unter einem Busch ein totes Kaninchen gefunden«, sagte Nils. »Nur noch Knochen und ein paar Fellfetzen. Das hat genauso gestunken.«
    »In was du so alles deine Nase steckst«, bemerkte Lisa spitz.
    Ihr Bruder schnitt ihr eine Grimasse.
    Chris bückte sich und hob einen langen Ast vom Boden auf, den der Wind irgendwann hier heraufgetragen hatte. Er sah nicht besonders stabil aus, aber für ihre Zwecke würde er hoffentlich ausreichen.
    Chris ging so nah an die Scheuche heran, bis er die Hutkrempe mit der Spitze des Zweiges berühren konnte. Mit einer raschen Bewegung stieß er den Hut nach hinten. Träge segelte er hinter dem Rücken der Scheuche zu Boden.
    Darunter kam ein Kopf aus Sackleinen zum Vorschein.
    »Fällt euch eigentlich was auf?«, murmelte Lisa.
    »Was denn?«, wollte ihr Bruder wissen.
    »Als wir eben unten auf der Wiese standen, hat es ausgesehen, als hätte die Vogelscheuche zu uns herübergeschaut.«
    »Na und?«
    »Lass mich doch ausreden! Jetzt tut sie das immer noch – uns anschauen, meine ich –, obwohl wir aus einer anderen Richtung kommen.«
    Chris wurde blass. »Du meinst, die hat sich zu uns umgedreht?«
    »Lisa hat Recht«, meinte Kyra.
    Ihnen wurde bei dieser Feststellung merklich kühler. Nach allem, was sie bislang erlebt hatten, war die allererste Gänsehaut immer noch die unangenehmste – jener Moment, in dem einem unumstößlich klar wird, dass man es mit Dingen zu tun hat, die einfach nicht sein dürfen.
    Übernatürlichen Dingen.
    Bösen Dingen.
    »Kannst du mit dem Stock den Sack vom Kopf runterziehen?«, fragte Nils.
    Chris hob die Schultern. »Ich könnte es mal mit der Hand versuchen. Ich meine, was soll schon passieren?«
    »Nein!«, entfuhr es Lisa. »Nicht anfassen.«
    »Warum nicht?«
    »Ich weiß nicht … Ist nur so ein Gefühl.«
    »Trotzdem finde ich, wir sollten nachsehen, was unter dem Sack steckt«, sagte Nils.
    Chris seufzte. »Ich versuch’s mit dem Ast.«
    Vorsichtig tastete er mit der Stockspitze nach dem Gesicht der Scheuche. Ihre hölzernen Glieder und Gelenke knirschten wie die Takelage eines Geisterschiffs. Das fleckige Hemd, das ihren Körper bedeckte, bauschte sich unter einem Windstoß auf und verursachte ein raschelndes Flüstern. Es gelang Chris erst beim dritten oder vierten Versuch, den Leinenstoff vom Ansatz am dürren Hals der Scheuche nach oben und dann nach hinten zu schieben.
    Allen vieren stockte der Atem.
    Zum Vorschein kam ein menschlicher Schädel. Die knöcherne Fratze eines skelettierten Gesichts grinste ihnen entgegen. Gelber, wurmstichiger Knochen. Leere, schwarze
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