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Sieben Siegel 06 - Die Nacht der lebenden Scheuchen

Sieben Siegel 06 - Die Nacht der lebenden Scheuchen

Titel: Sieben Siegel 06 - Die Nacht der lebenden Scheuchen
Autoren: Kai Meyer
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Tiefe der Büchergewölbe führte.
    Wenig später klopfte Kyra an die schwere Eichentür, die den Eingang des Archivs verschloss. Chris, der dem Archivar noch nie begegnet war, hatte keine rechte Vorstellung, was sie hier erwartete. Er vertraute Kyras Instinkt.
    Die Tür wurde von innen geöffnet. Trockene, staubige Luft wirbelte ihnen entgegen. Ein Geruch breitete sich aus wie in den Tiefen eines alten Kleiderschranks, der zu lange auf dem Dachboden gestanden hatte.
    Herr Fleck war klein für einen erwachsenen Mann, nicht größer als Chris, was zum Teil an seiner gebückten Haltung liegen mochte. Er hatte schneeweißes Haar, zu struppig, um gepflegt auszusehen, und sein Gesicht war runzlig wie Fallobst im Spätsommer.
    »Was zum Teufel?«, entfuhr es ihm erstaunt.
    Einen Moment lang befürchtete Kyra, er würde sie fortschicken. Doch dann schlich sich ein freundliches Lächeln über die Züge des Archivars. »Kyra Rabenson! Ja, natürlich, ich erinnere mich an dich. Du warst sehr wissbegierig bei deinem letzten Besuch. Oder soll ich lieber sagen, vorwitzig?« Er lachte leise. »Wie ich sehe, hast du noch jemanden mitgebracht. Wie ist dein Name, mein Junge?«
    »Chrysostomus Guldenmund. Meine Freunde nennen mich Chris.«
    Die buschigen weißen Augenbrauen des Alten zuckten nach oben. »Chrysostomus? Wie interessant. Griechisch für ›goldener Mund‹, nicht wahr?«
    Chris nickte. Er war in Athen geboren, als sein Vater dort als Diplomat gearbeitet hatte. Damals hatten seine Eltern kurzerhand ihren Nachnamen ins Griechische übersetzt und zum Vornamen ihres Sohnes gemacht.
    Fleck bat die beiden herein und schloss die Tür.
    Es war düster hier unten, nur über dem großen Schreibtisch des Archivars brannte eine Lampe. Ihr Schein umfasste exakt die Arbeitsfläche des alten Mannes, keine Handbreit mehr. Überall waren Türme aus Büchern und losen Dokumenten aufgestapelt, manche bedeckt mit fingerhohen Staubschichten.
    In der umliegenden Dunkelheit konnten Kyra und Chris vage die Mündungen von schmalen Gängen erkennen, die durch deckenhohe Bücherregale voneinander getrennt waren. Sie sahen aus wie Tunneleingänge in einem Tierbau. Aus den finsteren Schlünden zischte ein kalter Luftzug heran, durchsetzt mit den Gerüchen von Alter und Moder. Die hinteren Teile dieser Büchergänge mussten unterhalb des Marktplatzes liegen. Wenn es stimmte, dass der ganze Platz vom Labyrinth der Archivgewölbe unterhöhlt war, musste die Anlage gigantisch sein.
    Aus dem Dämmerlicht zog Fleck einen Stuhl heran und setzte sich hinter den Schreibtisch. Dann fragte er die beiden, was sie zu ihm führte.
    Auf dem Weg zum Rathaus hatten sie ausführlich darüber gesprochen, wie viel sie dem Archivar erzählen wollten. Die ganze Wahrheit? Nur einen Teil? Oder sollten sie eine gänzlich neue Geschichte erfinden, wie sie an den Abdruck des Nagels gekommen waren?
    Schließlich aber hatten sie sich entschlossen, bei der Wahrheit zu bleiben. Sie wollten Herrn Fleck um Hilfe bitten, und es wäre kein guter Anfang gewesen, wenn sie ihn von vornherein belogen hätten. Also berichteten sie ihm alles, was vorgefallen war – lediglich die Sieben Siegel erwähnten sie mit keinem Wort. Außer Tante Kassandra und Kyras Vater, Professor Rabenson, wusste niemand von den magischen Malen.
    Nachdem sie mit ihrem Bericht fertig waren, zog Kyra die Lehmkugel hervor. Sie war hart und bröcklig geworden, doch der Abdruck der Nagelgravur war unbeschädigt.
    Der Archivar erhob sich von seinem Stuhl und nahm die Kugel vorsichtig entgegen. »Soso«, murmelte er nachdenklich. Und: »Hm, hm.«
    Beides fanden Kyra und Chris nicht allzu ergiebig, aber sie warteten geduldig, dass Herrn Fleck noch mehr dazu einfallen würde. Während er noch grübelte, wurde Kyra mit einem Schlag bewusst, wie unangenehm es ihr war, mit dem Rücken zur Dunkelheit der unterirdischen Gänge zu sitzen. Aus den finsteren Mündungen mochte sich ihnen wer weiß was nähern, mit schleichenden, schlurfenden Schritten und blitzenden Fängen.
    Nein, wies sie sich eilig zurecht, hier sind wir sicher. Müssen einfach sicher sein.
    Trotzdem konnte sie nicht anders: Sie warf einen schnellen Blick über die Schulter, nur um erleichtert festzustellen, dass die Gangmündungen verlassen dalagen. Das war es, was der Fluch der Sieben Siegel mit sich brachte: ewiges Misstrauen, immer auf der Hut sein. Jeder Fehler, jede Unachtsamkeit konnte das Ende bedeuten.
    Der Archivar hielt den Abdruck ins Licht der
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