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Sieben Siegel 06 - Die Nacht der lebenden Scheuchen

Sieben Siegel 06 - Die Nacht der lebenden Scheuchen

Titel: Sieben Siegel 06 - Die Nacht der lebenden Scheuchen
Autoren: Kai Meyer
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Stattdessen sackte er mit einem Mal in sich zusammen, und Chris und Nils mussten vorspringen, um ihn festzuhalten. Vorsichtig halfen sie ihm, sich auf den Boden zu setzen, wo er müde und verwirrt vor sich hin starrte.
    »Riechst du was?«, flüsterte Lisa Kyra zu.
    »’ne Fahne?« Kyra schnüffelte und schüttelte denn den Kopf. »Nee.«
    »Eben«, meinte Lisa leise, sodass der Schäfer es nicht hören konnte. »Er hat nichts getrunken – und trotzdem erzählt er so ’n komisches Zeug.«
    Kropf schaute abrupt auf. »Henrietta lag im Gras, und sie war … sie war voller Blut! Und mitten in ihrem Fell … mitten in meiner Henrietta … steckte diese Vogelscheuche!«
    »Wo soll das passiert sein?«, fragte Chris bemüht sachlich.
    Der Alte hob die Hand und deutete nach Nordosten. »Da drüben, auf der alten Kieselwiese.«
    Das Grundstück dort hieß so, weil der Boden mit vielen weißen Kieselsteinen durchsetzt war. Trotzdem wuchs das Gras nirgends höher und saftiger. Für Schafe und Kühe war das Gelände ideal.
    »Wir könnten mal hingehen und nachschauen«, schlug Chris vor.
    Kropfs Hand schoss vor und packte Chris’ Unterarm. »Nein! Tut das nicht!«
    »Wieso nicht?«, kam Kyra Chris zur Hilfe. »Uns wird die Vogelscheuche schon nichts tun.«
    »Und wenn doch?«, stammelte der Alte. »Dann hab ich die Schuld.«
    Chris löste Kropfs Hand vorsichtig von seinem Arm. »Uns wird schon nichts passieren.«
    »Seid ihr sicher?«, meinte Nils. »Vielleicht sollten wir warten, bis die Polizei kommt.«
    »In Giebelstein gibt’s kein Revier. Bis die hier sind, ist es schon wieder Morgen.«
    Auch Lisa gefiel der Gedanke nicht, im schwindenden Tageslicht nach einem toten Schaf zu suchen. Aber weil Chris unbedingt herausfinden wollte, was geschehen war, widersprach sie nicht. »Gehn wir halt hin«, seufzte sie schweren Herzens.
    »Überstimmt«, sagte Kyra in Nils’ Richtung.
    Nils brummelte etwas Übellauniges, dann meinte er nur: »Wie ihr wollt.«
    Kropf rappelte sich auf. »Sagt später nicht, ich hätt euch nicht gewarnt«, rief er und setzte sich torkelnd in Richtung Giebelstein in Bewegung. Schlitternd rannte er den Hügel hinunter und verschwand im Schatten einer Hecke.
    »Dann los«, forderte Kyra die anderen auf, und gemeinsam eilten sie zurück zum Bahndamm und an ihm entlang nach Osten.
    Die Kieselwiese lag nur ein paar Minuten entfernt auf dieser Seite der stillgelegten Gleise. Lediglich eine sanfte Hügelkuppe versperrte ihnen die Sicht dorthin.
    »Der alte Kropf spinnt doch, oder?«, fragte Lisa zaghaft.
    »Klingt so«, erwiderte Kyra, aber sie wirkte keineswegs überzeugt. Sie hatten gemeinsam schon zu viel erlebt, um die Worte des Schäfers einfach als Verrücktheit abzutun.
    »Auf meinem Arm ist nix zu sehen«, sagte Nils. »Auf euren?«
    Alle verneinten. Bislang blieben die Sieben Siegel unsichtbar.
    Sie stürmten den Hügel hinauf und schauten von dort aus hinunter.
    Die Kieselwiese breitete sich vor ihnen in der Dämmerung aus. Das hohe Gras bog sich im sanften Abendwind und raschelte geheimnisvoll. Durch ein offenes Gatter war Kropfs Herde auf eine der benachbarten Weiden weitergezogen, bewacht nur von Kropfs altem Schäferhund. Das Fell des Tieres war fast genauso grau wie das Haar seines Herrchens.
    In der Mitte der leeren Kieselwiese lag etwas Unförmiges, weiß und rot gemustert.
    »Henrietta«, flüsterte Kyra.
    Eilig liefen sie den Hang hinunter, kletterten durch eine weitere Hecke und wurden erst zehn Meter vor dem toten Schaf langsamer. Unsicher näherten sie sich dem Kadaver.
    Zumindest in einem hatte der alte Kropf Recht gehabt: Sein Lieblingsschaf war tot, daran gab es keinen Zweifel. Henriettas Wolle war nicht länger weiß. Ihr Kopf wies gnädigerweise in eine andere Richtung, sodass die Freunde nicht in den gebrochenen Blick der toten Augen starren mussten.
    Einen Moment lang brachte keiner ein Wort heraus. Der Anblick war zu schrecklich.
    »Das ist so … gemein«, brachte Lisa hervor. Ihre Augen füllten sich mit Tränen.
    »Welcher Mistkerl mag das wohl gewesen sein?«, knurrte Kyra.
    Nils warf ihr einen Seitenblick zu. »Wer sagt denn, dass es ein Kerl war?«
    »Frauen tun so was nicht«, meinte Lisa.
    Ihr Bruder runzelte die Stirn. »Ach ja?«
    Chris ging dazwischen, bevor es zu einem Streit zwischen den Geschwistern kommen konnte. »Kropf hat ja auch nicht von einer Frau oder von einem Mann gesprochen, nicht wahr?«
    Nils winkte ab. »Der war doch besoffen.«
    »War er nicht«,
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