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Sieben Siegel 05 - Schattenengel

Sieben Siegel 05 - Schattenengel

Titel: Sieben Siegel 05 - Schattenengel
Autoren: Kai Meyer
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heulte der Sturm wie eine Horde verzweifelter Gespenster.
    »Lang genug wofür !«, fragte Nils, der natürlich genau wusste, was Chris durch den Kopf ging. Er wollte es nur nicht wahrhaben.
    »Wir können das Brett vom Rand der Klippe bis zu der Plattform oben auf der Felsnadel schieben«, erklärte Chris hastig. »Einer von uns kann dann rüberklettern.«
    »Bei dem Sturm?«, rief Nils. »Das ist Wahnsinn!«
    Chris nickte. »Wir müssen es trotzdem versuchen.«
    Hinter ihnen erschien Azachiel im Portal der Kirche. »Und ihr müsst es schnell tun«, sagte er. »Das Sonnenloch in den Wolken wird nicht lange offen bleiben. Außerdem haben wir nicht mehr viel Zeit, bis Raguel und die anderen hier auftauchen.«
    Chris zerrte eine der Bänke hervor. Nach kurzem Zögern trat Nils neben ihn und half ihm beim Zerlegen der Bank. Das Holz schien trotz seines Alters stabil zu sein, lediglich die Nägel waren auf Grund der feuchten Seewitterung verrostet und porös. Den beiden Jungen konnte das nur recht sein.
    Bald schon trugen sie das Sitzbrett der Bank ins Freie. Es maß ungefähr fünf Meter, war also lang genug, um Klippe und Plattform miteinander zu verbinden.
    Unter den besorgten Blicken der beiden Mädchen brachten sie es an den Felsrand, unmittelbar neben der Kirche.
    Als sie aufschauten, stand Azachiel bereits auf dem Plateau der Felsnadel, jenseits des Abgrunds. Der Sturm riss an seinem Mantel, bis sein Gesicht nur noch ein heller Fleck inmitten eines schwarzen Wirbels aus Stoff und Haarsträhnen war. Neben ihm war auf der winzigen Plattform gerade noch Platz genug für eine weitere Person.
    Lisa fand, dass Orte wie dieser wie geschaffen waren für Wesen wie Azachiel – etwas Majestätisches und zugleich Angst einflößendes ging von ihm aus, das hier noch stärker zur Geltung kam als anderswo. Kein gewöhnlicher Mensch konnte so mühelos dort stehen, wo er stand; er wirkte jetzt noch beeindruckender als vorhin am Himmel.
    Kyra hatte den Rucksack mit dem Haupt von Lachis am Boden abgelegt. Jetzt ging sie in die Hocke, um Nils und Chris zu helfen. Zu dritt schoben sie das Brett über den Klippenrand, bis es das Plateau der Felsnadel erreichte. Azachiel nahm es im Schatten der Kirche, der nun genau auf ihn fiel, entgegen. Er zog es auf die Plattform, bis es genug Halt hatte.
    »Okay«, meinte Chris, als er sich aufrichtete. »Es war meine Idee, dann werd ich sie wohl auch ausbaden müssen.«
    Kyra schüttelte den Kopf. »Ich gehe.«
    »Kommt nicht in Frage«, erwiderte Chris. Er musste gegen den Wind anschreien.
    Lisa blickte derweil zu Azachiel hinüber. Sie spürte den Blick des Engels auf sich, und wieder sah sie, dass er sie anlächelte. Genau wie oben auf der Tragfläche des Flugzeugs. Er hatte ihnen allen das Leben gerettet, und er würde es vielleicht wieder tun, wenn ihm genug Zeit dazu blieb – vorausgesetzt, Kyra und Chris konnten sich entschließen, endlich ihren kindischen Streit zu beenden. Es war immer das Gleiche mit ihnen; stets zankten sie sich um die gefährlichsten, die wagemutigsten Aufgaben.

Lisa atmete tief durch und fasste einen Entschluss.
    Blitzschnell bückte sie sich, packte den Rucksack und trat mit dem nächsten Schritt hinaus auf die Planke über dem Abgrund.
    Ein Aufschrei ertönte hinter ihrem Rücken, als erst Nils, dann auch die beiden anderen bemerkten, was sie tat. Aber Lisa hatte nur Augen für den schmalen Holzsteg, der sich zwischen ihr und der mörderischen Tiefe befand. Sie gab sich Mühe, nicht nach unten zu schauen, aber so ganz konnte sie es nicht verhindern.
    Dort im Abgrund, viele Meter unter ihr, brach sich die schäumende Brandung am Fuß der Felsen. Rasiermesserscharfe Steinzacken reckten sich ihr entgegen, als warteten sie nur darauf, dass Lisa stürzte und sich an ihnen aufspießte.
    »Lisa, sei ja vorsichtig!«, rief Chris hinter ihr, und auch Nils und Kyra brüllten irgendetwas. Aber die Worte der beiden gingen im Toben des Windes unter, und für Lisa zählte im Augenblick ohnehin nur die Sorge in Chris’ Stimme. Er hatte Angst um sie; also empfand er etwas für sie. Das war toll, und es machte ihr Mut.
    Azachiel streckte eine Hand nach ihr aus, aber noch war sie viel zu weit von ihm entfernt. Sie hatte gerade einmal einen einzigen Schritt über die Planke gemacht. Mindestens fünf oder sechs weitere lagen noch vor ihr. Und selbst wenn sie lebend dort drüben ankam, war da immer noch der Rückweg.
    Es sah alles ziemlich düster für sie aus. Zumal der Regen jetzt
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