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Sieben Siegel 05 - Schattenengel

Sieben Siegel 05 - Schattenengel

Titel: Sieben Siegel 05 - Schattenengel
Autoren: Kai Meyer
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könnte es jedermann ohne Mühe genauso machen.
    Die vier Freunde schauten ihm mit aufgerissenen Mündern hinterher. Sie sahen, wie er zwischen den Regenvorhängen himmelwärts stieg, schließlich diffus wurde und dann ganz verschwand.
    »Und jetzt?«, fragte Nils.
    »Hast du doch gehört«, rief Lisa zurück. »Wir sollen warten, hat er gesagt.«
    »Der hat leicht reden«, schimpfte ihr Bruder. »Der kann einfach abheben, wenn dieser Raguel hier auftaucht. Von da oben hat er bestimmt ’nen tollen Ausblick auf das, was der mit uns anstellt.«
    Kyra riss den Arm hoch und deutete nach oben.
    »Guckt euch das an!«, stieß sie aus und hielt dabei vor Staunen den Atem an.
    Weit, weit über ihnen war ein winziges Loch in der dunklen Wolkendecke entstanden. Im ersten Moment sah es aus wie ein Stern, ein golden leuchtender Punkt. Doch dann wurde ihnen schlagartig klar, dass es eine Öffnung war, durch die Sonnenlicht fiel.
    Und dabei blieb es nicht. Das Loch wurde größer, ein kreisrunder Wirbel, der die Wolken an dieser Stelle aufbrach und auseinander trieb.
    Inmitten dieser Öffnung schwebte ein winziger, dunkler Punkt.
    Hätte einer der vier ein Fernglas dabeigehabt, so hätte er vielleicht erkennen können, was dort oben vor sich ging: Azachiel schwebte aufrecht inmitten der geballten Gewitterwolken, hatte den Arm mit dem Schwert ausgestreckt und rotierte wie ein Kreisel um sich selbst – so schnell, dass seine menschliche Form kaum mehr auszumachen war. Der rasende Wirbel trieb die Wolken auseinander wie ein Ventilator den Zigarettenqualm in einem engen Zimmer voller Raucher.
    Die vier am Boden konnten nur raten, was Azachiel tat, und alle lagen ziemlich gut mit ihren Schätzungen. Fest stand, dass er es fertig brachte, für die Sonnenstrahlen einen Korridor durch die Wolkendecke zu schaffen, breit genug, dass ihr Licht auf die Kirche fiel – und so einen Schatten schuf.
    Einige Minuten vergingen, ehe Azachiel wieder herabschwebte und zwischen den Freunden auf dem Felsboden landete. Das runde Loch über ihnen am Himmel mochte hundert oder tausend Meter breit sein, von hier unten ließ sich das kaum abschätzen. Aber die Größe war auch gleichgültig. Wichtig war nur, dass die Kirche endlich einen Schatten warf. Jetzt stand der Übergabe des Haupts von Lachis nichts mehr im Wege.

Dachten sie zumindest. Doch die Wahrheit sah anders aus.
    »Mist!«, fluchte Nils hilflos, als er zur Kirche blickte. Auch die anderen zischten Schimpfworte in den hungrigen Sog der Windböen.
    Der Schatten der Kirche fiel geradewegs über den Rand der Klippe hinweg. Nicht einmal der schmalste, winzigste Streifen lag auf dem begehbaren Felsboden. Stattdessen erstreckte sich jeder Quadratzentimeter des kostbaren Schattens über den Abgrund hinweg und traf haarscharf auf das kleine Plateau der Felsnadel.
    Wie aber sollten die vier dorthin gelangen?
    Kyra sah Azachiel an. »Du kannst nicht zufällig die Sonnenstrahlen irgendwie … hm, umlenken?«
    Die Augen des Engels waren finster wie zwei tiefe Brunnenschächte. »Nein. Es ist nicht schwer, ein paar Wolken zu vertreiben, aber die Sonne ist etwas ganz anderes. Einst war sie eine Göttin, und sie hat noch heute ihren eigenen Willen.«
    Die Freunde verstanden nicht recht, wie er das meinte und was das eine so viel schwieriger machte als das andere. Aber ihnen blieb keine Wahl, als seine Worte zu akzeptieren. Der Engel würde wissen, was in seiner Macht stand und was nicht.
    »Azachiel könnte einen von uns dort rüberfliegen«, schlug Nils vor.
    »Hast du nicht zugehört?«, erwiderte der Engel gereizt. »Du würdest einfach durch meine Arme hindurchfallen und unten auf den Klippen aufschlagen.« Er machte eine kurze Pause, dann sagte er: »Einer von euch muss dort hinüber, das ist der einzige Weg.«
    Die vier schauten sich ratlos an. Azachiel stellte sich das alles für ihren Geschmack ein wenig einfach vor. Wie, bitte schön, sollten sie das Plateau erreichen? Vielleicht springen? Ihr eigener Schwung würde sie über die Felsnadel hinaustragen und auf der anderen Seite in die Tiefe stürzen.
    »Ich hab ’ne Idee!«, meinte plötzlich Chris, löste sich aus der Gruppe und lief zum Portal. »Nils, komm mit!«
    Nils folgte ihm mürrisch ins Innere der Kirche. Drinnen zeigte Chris auf die alten Bänke, die ihnen schon bei ihrem ersten Besuch aufgefallen waren.
    »Wenn wir eine davon auseinander nehmen, dürfte das Sitzbrett lang genug sein«, sagte Chris. Über ihnen im Gebälk jammerte und
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