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Sieben Siegel 05 - Schattenengel

Sieben Siegel 05 - Schattenengel

Titel: Sieben Siegel 05 - Schattenengel
Autoren: Kai Meyer
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noch stärker wurde und fast waagerecht gegen die Felswand unter ihr peitschte. Auch die Blitze fielen Lisa mit einem Mal wieder ein – war es möglich, dass sie von einem getroffen wurde, während sie über den Abgrund balancierte?
    Etwa das letzte Drittel der Planke lag im Schatten der Kirche. Der vordere Teil aber wurde von den grellen Sonnenstrahlen beschienen, die wie ein Bündel glühender Dolche durch die offene Wolkendecke fielen. Noch ein paar Schritte, dann befand sie sich im Schatten und konnte Azachiel den Rucksack vielleicht zuwerfen. Wenn sie dann abstürzte, würde er zumindest die anderen retten.
    Plötzlich hatte sie Tränen in den Augen. Auf was hatten sie sich da nur wieder eingelassen?
    »Lisa, pass auf dein Gleichgewicht auf!«, brüllte Chris ihr zu.
    Als wäre sie darauf nicht selbst gekommen!
    Der Rucksack mit dem Engelshaupt war schwer und drohte immer wieder, sie aus der Balance zu bringen. Aber am schlimmsten war tatsächlich der Wind. Die Böen rissen an ihr wie mit unsichtbaren Händen, Geisterklauen, die sich um ihre dünnen Beine und Arme klammerten und sie mal nach links, mal nach rechts zerrten.
    Azachiel sagte nichts. Er stand einfach nur da wie auf einem Thron aus grauem Gestein und streckte ihr weiterhin die linke Hand entgegen. In der Rechten hielt er unverändert das Schwert, als rechne er jederzeit mit einem Angriff.
    Plötzlich schrie Nils hinter ihrem Rücken:
    » Da kommen sie! «
    Vor Schreck geriet Lisa einen Moment lang aus dem Gleichgewicht. Sie taumelte, spürte das Gewicht des Rucksacks, als hätte es sich auf einen Schlag verzehnfacht, und schwankte instinktiv zur anderen Seite, um den Sog auszugleichen. Unter ihren Füßen ächzte das Brett. Zwei, drei Sekunden lang war sie überzeugt, dass es brechen würde. Erst das Brett und dann ihre Wirbelsäule, wenn sie unten auf den Klippen aufschlug.
    Aber sie stürzte nicht. Irgendwie gelang es ihr, sich wieder zu fangen, und dann blieb sie erst einmal mehrere Atemzüge lang stehen und versuchte, innerlich einigermaßen zur Ruhe zu kommen. Das Brett schien sich unter ihren Füßen zu winden wie eine wild gewordene Anaconda, aber als Lisa hinsah, war es einfach nur eine harte, starre Planke.
    Endlich brachte sie den Mut auf, ihren Blick für einen kurzen Moment zum Himmel zu wenden.
    Und dort sah sie es.
    Acht schwarze Punkte, die in einer spitzen Formation auf die Insel zuschwebten, ungehindert vom Sturm und den tobenden Elementen. Acht finstere Gestalten, die einmal die schönsten und herrlichsten Geschöpfe des ganzen Universums gewesen waren, und die jetzt nur noch Böses und Schändliches im Sinn hatten. Acht Gefallene Engel, die mit ihrem Meister Satanael zur dunklen Seite übergetreten waren, allmächtige Krieger der Hölle.
    Auch Azachiel hatte sie längst entdeckt, doch sein Blick blieb auf Lisa gerichtet.
    »Komm her.« Seine Stimme schnitt durch das Tosen der Winde wie eine Messerklinge. »Du musst dich beeilen. Sie werden bald hier sein.«
    Lisa wollte nicken, aber sie hatte Angst, dass schon die kleinste unkontrollierte Bewegung sie erneut aus dem Gleichgewicht bringen könnte. Stattdessen setzte sie unendlich vorsichtig einen Fuß vor den anderen. Sie hatte jetzt genau die Mitte der Planke erreicht.
    Ein neues Geräusch wurde hinter ihrem Rücken laut. Diesmal keine Rufe, auch kein alarmiertes Gebrüll. Nein, es war das Blöken einer uralten Autohupe. Castels Jeep!
    Aber nicht der Franzose saß am Steuer, sondern Professor Rabenson. Doktor Castel war nirgends zu sehen.
    »Oh, mein Gott … Oh, liebe Güte … Oh, verflixt noch mal …«
    Lisa hörte sein aufgeregtes Gestammel im Tosen des Sturmes, konnte sich aber nicht darum kümmern.
    Sie machte noch einen zaghaften Schritt nach vorne.
    Der Hauch eines süßlichen Geruchs drang an ihre Nase, ähnlich wie Vanille. Sie wusste nicht, ob sie ihn sich nur einbildete oder ob Azachiel den Duft verströmte. Doch je näher sie dem Engel nun kam, desto gelöster wurde sie, ja, desto leichter fiel es ihr, den tödlichen Abgrund unter ihren Füßen zu vergessen.
    Kyras Vater rief Lisa von hinten etwas zu, aber die anderen fielen ihm gleich ins Wort. Irgendwer, wahrscheinlich seine Tochter, erklärte ihm, weshalb Lisa auf der gefährlichen Planke balancierte. Und als der Professor schließlich verstummte, war das ein untrügliches Zeichen dafür, dass auch er Raguels Trupp am Himmel entdeckt hatte.
    Derweil verabschiedete sich Lisa von der Idee, den Rucksack zu Azachiel
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