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Sieben Siegel 05 - Schattenengel

Sieben Siegel 05 - Schattenengel

Titel: Sieben Siegel 05 - Schattenengel
Autoren: Kai Meyer
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steht, werde ich dein Leben retten.«
    Lisa schien einen Moment lang aus ihrer Trance zu erwachen, so als wären die Worte des Engels zu ihr durchgedrungen und hätten sie aus tiefem Schlaf gerissen.
    Und zum ersten Mal zögerte sie.
    Azachiel strich ihr übers Haar. Er hatte die Veränderung noch nicht bemerkt, denn sein Blick war weiterhin auf Raguel gerichtet. »Hör nicht auf ihn«, flüsterte er. »Man nennt seinen Herrn nicht umsonst den Meister der Lüge.«
    Lisa ließ die Hand mit dem Rucksack langsam sinken.
    Raguel winkte ihr wortlos zu, mit beschwörender Gestik.
    Kyra zog zischend die Luft ein. Neben ihr verkrampften sich Chris und Nils. Der Professor lehnte an der Kirchenmauer, als hätte ihm jemand einen kräftigen Schlag verpasst; er brachte schon lange kein Wort mehr heraus.
    Azachiel wandte den Blick von seinem Feind auf das Mädchen an seiner Seite – und erkannte schlagartig, dass sie drauf und dran war, den Lockungen Raguels zu verfallen. Er wollte nach dem Rucksack greifen, doch es war bereits zu spät.
    Lisa schleuderte das Bündel über den Abgrund, geradewegs auf Raguel zu.
    Kyra handelte.
    Sie wusste nicht, ob sie das Richtige tat. Aber sie spürte genau, dass Lisa von den Kräften dieser Geschöpfe zerrissen werden würde – und sie konnte nicht zulassen, dass Raguel das Haupt in die Finger bekam.
    Ehe irgendwer sie aufhalten konnte, sprintete Kyra los. Auf die Felskante und die schmale Planke zu. Vorbei an Raguel, geradewegs auf das Brett.
    Ihre Füße hatten bereits zwei hastige Schritte über das Holz gemacht, als sie mit beiden Händen den Rucksack aus der Luft schnappte. Dabei musste sie unweigerlich das Gleichgewicht verlieren. Doch statt in die Tiefe zu stürzen, ließ sie sich breitbeinig auf die Planke fallen.
    Der Schmerz war grauenvoll. Eine endlose Sekunde lang hatte sie das Gefühl, der Aufprall zerreiße ihren Unterleib.
    Aber sie kam zum Sitzen. Schwankend, keuchend vor Pein – aber sie saß.
    Rittlings, wie auf einem Pferd, hockte sie im Sonnenlicht über dem Abgrund, genau in der Mitte der Planke, das Gesicht Azachiel und Lisa zugewandt.
    In ihren Händen hielt sie sicher den Rucksack, und darin das kostbare Haupt von Lachis.
    Jetzt lag es an ihr, die Entscheidung herbeizuführen.
    Lisa stand unter dem Bann der verfeindeten Engel, und niemand konnte ihr deswegen einen Vorwurf machen. Sie hatte nie eine Chance gehabt.
    Kyra dagegen trug das Erbe ihrer Mutter in sich, den Geist einer Hexe. Niemals zuvor hatte sie darauf vertraut, dass dieser Umstand ihr das Leben retten würde. Doch diesmal hatte sie keine andere Wahl.
    Mutter, dachte sie flehentlich, wenn wirklich noch ein Teil von dir in mir steckt, irgendwo, ganz tief, dann hilf mir!
    Sie konnte die geistigen Wellen der Beeinflussung, die Raguel und Azachiel aus entgegengesetzten Richtungen auf sie abschossen, förmlich vor sich sehen. Spürte, wie sie auf sie zurasten, um sie zu betören, um ihren freien Willen zu zerfetzen. Fühlte aber auch, wie sie von einem unsichtbaren Schutzschild abprallten, wie Pfeile von einer Ritterrüstung.
    Ja!, durchzuckte es sie euphorisch.
    Das war es! Ihr Erbe war doch zu etwas nutze! Endlich hatte sie den Beweis. Die Engel konnten ihr nichts anhaben, nicht so, wie sie Lisa in ihren Bann gezogen hatten.
    Kyra schaute über die Schulter zu Raguel, der vor Wut schäumte, dann wieder nach vorne zu Azachiel. Er wirkte eher überrascht als wütend. Noch immer hielt er Lisa fest, damit sie nicht von dem Plateau stürzte.
    »So!«, sagte Kyra. »Jetzt beantwortet mir eine Frage: Was wird geschehen, wenn ich einem von euch das Haupt überlasse?« Nach kurzer Pause setzte sie hinzu: »Und seid ehrlich. Ich habe keine Skrupel, das Ding einfach loszulassen. Dann werden wir sehen, wie schnell ihr fliegen könnt, um es aufzufangen.«
    Das saß! Keiner der beiden konnte Kyra dort, wo sie saß, erreichen. Azachiel nicht, weil sie nicht im Schatten der Kirche war und er im Sonnenschein durch sie hindurchgegriffen hätte, und Raguel nicht, weil er fürchtete, Kyra könnte das Haupt von Lachis fallen lassen. Seine Reaktion ließ erkennen, dass er keine Möglichkeit sah, das Haupt zu fangen, ehe es auf den Klippen zerschellte. Kyra schien mit ihrem verzweifelten Plan richtig zu liegen.
    Während Kyra auf eine Antwort der beiden Kontrahenten wartete, wurden Lisas Gedanken allmählich wieder klar. Ihre Züge entkrampften sich, der verträumte Schleier schwand aus ihrem Blick. Schlagartig wurde ihr bewusst,
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