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Sieben Siegel 04 - Der Dornenmann

Sieben Siegel 04 - Der Dornenmann

Titel: Sieben Siegel 04 - Der Dornenmann
Autoren: Kai Meyer
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schloss hinter sich die Terrassentür. »Wo ist der Sicherungskasten?«
    Kyra stellte die Dose ab. Erst jetzt fiel ihr wieder auf, wie dunkel es im Haus war. Die Schwärze schien von allen Seiten einen Satz auf sie zuzumachen wie eine Horde geschmeidiger Panter.
    »Ich mach das schon«, sagte Kyra und tastete sich am Sofa und dem erloschenen Kaminfeuer vorüber.
    Irgendwo hinter ihr stolperte Chris polternd über Tommys Bauklötze. Fluchend ließ er sich in einen Sessel fallen und schimpfte ausgiebig über sein angeschlagenes Knie.
    Kyra erreichte die Wohnzimmertür. Vor dem letzten Schritt durch den Türrahmen zögerte sie plötzlich.
    Etwas war anders.
    Sie war nicht sicher, was es war. Aber irgendetwas hatte sich verändert.
    Das Rechteck der Tür war rabenschwarz. Der Flur lag in völliger Finsternis, so undurchdringlich, als hätte jemand einen Vorhang vorgezogen. Kyra hatte mit einem Mal das Gefühl, die Schwärze berühren zu können, wenn sie die Hand danach ausstreckte.
    Aber die Dunkelheit war nicht ungewöhnlich. Nicht ohne Strom. Nicht ohne Licht.
    »Bleib ganz ruhig«, sagte sie sich. »Krieg jetzt nur keine Panik. Nicht, wenn Chris dabei ist. Und außerdem: Seit wann fürchtest du dich im Dunkeln?«
    Das tat sie nicht, nein, gewiss nicht. Auch wenn sie seit dem ersten Erscheinen der Sieben Siegel allen Grund dazu hatte.
    Die Herdbeleuchtung!
    Natürlich, das war es! Als sie die Sicherung ausgeschaltet hatte, war das kleine Licht unter der Abzugshaube in der Küche immer noch an gewesen. Der Schein war hinaus in den Flur gefallen und hatte ihr den Weg zurück ins Wohnzimmer gewiesen.
    Jetzt aber war es aus.
    Oder, nein, nicht aus. Es wurde verdeckt. Von etwas, das den gesamten Flur ausfüllte.
    »Kyra!«, rief plötzlich Chris hinter ihrem Rücken. »Die Siegel …!«
    Sie musste nicht erst auf ihren Unterarm schauen, um zu wissen, was er meinte. Die Sieben Siegel waren erschienen.
    Etwas war hier im Haus. Vor ihr im Flur!
    Sie federte einen Schritt zurück, und im gleichen Moment hatten sich ihre Augen endlich an die Finsternis gewöhnt. Sie erkannte, was dort draußen im Gang war.
    Kein Mensch. Kein Monster.
    Es waren Zweige. Ein dichtes Dickicht aus Dornenzweigen. Sie hatten den gesamten Korridor zugewuchert, so lückenlos, dass nicht einmal das Licht aus der Küche hindurchdrang.
    »Chris!« Sie schrie seinen Namen und war noch in der selben Sekunde bei ihm, riss ihn am Arm aus dem Sessel.
    Er stellte keine Fragen. Der Anblick der Siegel war Erklärung genug. Es ging wieder los. Schon wieder.
    Kyra erreichte die Terrassentür und riss den Hebel herunter. Die riesige Glaswand schob sich zur Seite. Ein kühler Windstoß wehte den beiden Freunden entgegen.
    Sie hatten kaum die Terrasse betreten, als vor ihnen ein lautes Knistern und Rasseln ertönte, wie von einem Bulldozer, der durch das Unterholz eines Waldes walzt.
    Dornenzweige rasten wie Tentakel eines Oktopus auf sie zu, von irgendwo aus der Finsternis. Chris und Kyra sprangen schreiend zur Seite. Ein ganzes Bündel Zweige schoss an ihnen vorüber. Wie der Gewebestrahl einer Riesenspinne fächerten die Äste auseinander und verschlossen die offene Tür. Das Dornendickicht, das jetzt den ganzen Eingang ausfüllte, sah aus wie hölzerner Stacheldraht.

Chris und Kyra hetzten von der Terrasse auf den Rasen.
    Der Erdschatten war weitergewandert und gab die helle Scheibe am Himmel allmählich wieder frei.
    Aber auch der Mond hatte sich verändert. Es gab keine dunklen Stellen mehr auf seiner Oberfläche, keine Schatten. Er war jetzt eine Kugel aus reinem, fleckenlosem Weiß. Etwas fehlte.
    Kyra erkannte im selben Augenblick, was es war, als Chris sie mit dem Ellbogen anstieß und über den Rasen zur nächsten Baumzeile deutete.
    »Da vorne!«, flüsterte er.
    Eine dunkle Gestalt hob sich von der mondbeschienenen Tanne ab. Ein pechschwarzer Umriss, als wäre die Finsternis zu etwas Festem geronnen. Nur Kontur, keine Tiefe.
    Ein Mann, spindeldürr wie eine Heuschrecke.
    Auf seinem Rücken trug er etwas, das aussah wie ein Rucksack.
    Tatsächlich aber war es ein Bündel von Zweigen. Dornenzweigen! Und ihre Enden zuckten und bebten wie elastische Fangarme.
    Kyra schaute erneut zum Mond empor. Ungläubig. Fassungslos.
    Die Zweige auf dem Rücken des Mannes zuckten schneller, wurden länger, fächerten auseinander wie ein Netz.
    »Wer, zum Teufel, ist denn das?«, entfuhr es Chris.
    Kyra konnte den Blick nicht von der unheimlichen Gestalt nehmen, schwarz und
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