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Sieben Siegel 04 - Der Dornenmann

Sieben Siegel 04 - Der Dornenmann

Titel: Sieben Siegel 04 - Der Dornenmann
Autoren: Kai Meyer
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gesichtslos, wie sie dastand.
    »Du wirst es mir ja doch nicht glauben«, wisperte sie atemlos.
    »Nun sag’s schon.«
    Kyra lachte plötzlich, aber es klang alles andere als fröhlich. Ein Ausdruck purer Panik.
    »Das da vorn«, sagte sie, und ihre Stimme war nur ein Hauch, »ist der Mann im Mond.«

Dornentanz
    Die Sängerin bewegte sich mit der Grazie einer Raubkatze über die Bühne. Sie trug einen hautengen, dunklen Overall. Ihr langes, schwarzes Haar wogte und wirbelte wie das Schlangenhaupt der Medusa. Trotz ihrer hohen Absätze sprang und tanzte sie mit einer Eleganz über den Köpfen des Publikums, die vor allem die Mädchen neidisch machte.
    Ihre Stimme war hell und klar; sie übertönte mühelos die Instrumente der Musiker, die im Schatten jenseits der Scheinwerfer spielten. Die Männer waren nur als Silhouetten zu sehen, vage Umrisse im Hintergrund der Bühne, auf die sich kein Lichtstrahl verirrte. Allein die geschmeidige Sängerin tobte durch die gleißenden Lichtkegel, rasant und verführerisch, und verwandelte die vorderen Reihen des Publikums in einen Hexenkessel.
    Keiner hatte je zuvor von ihr gehört, aber alle waren hellauf begeistert. Für eine Unbekannte war ihr Auftritt erstaunlich professionell, doch auf den Plakaten tauchte nicht einmal ihr Name auf.
    Schließlich stimmte sie das letzte Lied des Abends an. Es endete mit einem aufregenden Feuerwerk, das nicht nur die Bühne, sondern auch Teile der Festwiese und des Himmels in Flammen tauchte.
    Der Applaus währte minutenlang. Die Sängerin verbeugte sich knapp, dann verschwand sie hinter der Bühne. Es gab keine Zugaben. Oben am Himmel wurde gerade der Mond vom Erdschatten verdunkelt.
    Ein Großteil der jugendlichen Zuschauer strömte auseinander und verschwand durch das Stadttor in den Straßen und Gassen Giebelsteins. Einige der älteren blieben auf der Wiese sitzen, in kleinen Gruppen, palaverten, rauchten, tranken Bier und Cola.
    Nils schaute auf seine Uhr. »Halb zwölf«, sagte er. »Mama und Papa werden schon am Fenster hocken.«
    Lisa, seine Schwester, schüttelte den Kopf und klopfte sich Gras vom Minirock. »Sie wollten früh ins Bett gehen. Die werden gar nicht merken, wann wir nach Hause kommen.«
    Seit das Hotel Erkerhof – oder Kerkerhof, wie Nils und Lisa das düstere Gemäuer nannten – umgebaut und renoviert wurde, waren ihre Eltern jeden Abend fix und fertig. Handwerkertrupps hielten sie den ganzen Tag auf Trab, und zudem musste für den einen oder anderen Gast gesorgt werden. Viele waren es noch immer nicht, aber alle hofften, dass es mehr werden würden, wenn die Renovierung erst abgeschlossen war.
    »Wo steckt eigentlich Chris?«, fragte Lisa mit einem Mal und schaute sich auf der Festwiese um. Oben auf der Bühne machten sich Helfer an Lautsprechern und Kabelsträngen zu schaffen.
    »Keine Ahnung«, entgegnete Nils schulterzuckend. »War plötzlich weg.«
    »Glaubst du, er ist zu –«
    »Zu Kyra gegangen?«, führte Nils Lisas Satz zu Ende. Er zwinkerte ihr zu. »Eifersüchtig?«
    »Ha, ha«, sagte sie giftig.
    »Wir könnten hinlaufen. Mal sehen, was die beiden so treiben.«
    Lisa schnitt ihm eine Grimasse, nickte aber dann. »Von mir aus.«
    Zwei Minuten später eilten sie durchs Stadttor, die gepflasterte Hauptstraße entlang nach Norden. Sie mussten mehrfach abbiegen, durch enge Gässchen und Schneisen laufen, vorbei an uralten Fachwerkhäusern, Türmen aus Bruchstein und kleinen Plätzen, auf denen schmuckvolle Brunnen einsam vor sich hin plätscherten.
    Ruths Haus lag im Westen Giebelsteins, an einer Stelle, wo ein Stück der Stadtmauer eingestürzt war, was eine Erweiterung der Grundstücke nach außen hin erlaubt hatte. Alle Häuser, die hier lagen, besaßen riesige Gärten, manche regelrechte Parkanlagen.
    Das Haus, in dem Ruth lebte, war keine Ausnahme. Sie hatte es von ihren Eltern geerbt und mit dem Geld, das sie bis zu Tommys Geburt als Immobilienmaklerin verdient hatte, rundum erneuert. Allein stehend hin oder her – Ruth wohnte in einer der schönsten Villen Giebelsteins.
    Lisa und Nils passierten die Toreinfahrt.
    Durchs Küchenfenster fiel schwacher Lichtschein. Hinter allen übrigen Scheiben herrschte Dunkelheit. Hohe, alte Bäume beugten sich über die Auffahrt und flankierten das Gebäude wie schweigsame Wachsoldaten.
    »Sieht aus, als wäre keiner da«, meinte Nils, als sie die Treppe zur Haustür hinaufstiegen.
    »Das Wohnzimmer liegt nach hinten raus«, erwiderte Lisa. »Kyra wird
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