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Sieben Siegel 04 - Der Dornenmann

Sieben Siegel 04 - Der Dornenmann

Titel: Sieben Siegel 04 - Der Dornenmann
Autoren: Kai Meyer
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ein Leben führen wollte, wie andere Jugendliche ihres Alters es taten, musste sie gewisse Risiken eingehen. Damit hatte sie sich allmählich abgefunden.
    Etwas raschelte in den Büschen. Links von ihr.
    Kyra wirbelte herum.
    Wenn man vom Teufel spricht, dachte sie …
    Aber es war nicht der Teufel. Auch keiner seiner Diener.
    Es war Chris.
    »Hi!«, meinte er knapp. Wie immer trug er pechschwarze Kleidung und hob sich kaum von der Dunkelheit ab. Auch sein Haar war schwarz. Im Augenblick war es ein wenig zerzaust, so als sei er gerannt.
    Kyra atmete erleichtert auf. »Scheiße. Hast mich ganz schön erschreckt.«
    »Ich hab geklingelt, aber es hat keiner aufgemacht.«
    Natürlich, die Sicherung! »Ich hab den Strom abgeschaltet. Wahrscheinlich hängt die Klingel mit dran.«
    Chris schaute sich im dunklen Garten um.
    »Wieso läufst du hier draußen rum? So ganz ohne Licht … und ohne Strom?«
    Kyra seufzte und deutete zum Himmel. »Die Mondfinsternis. Ich wollte zuschauen.«
    Die helle Sichel war jetzt so schmal, dass man sie mit bloßem Auge kaum noch erkennen konnte. Chris suchte einige Sekunden lang mit seinen Blicken den schwarzen Nachthimmel ab, ehe er die kläglichen Überreste des Vollmondes entdeckte.
    »Hmhm«, meinte er, was nicht besonders intelligent klang (und das, obwohl Chris ziemlich intelligent war – so schwer es Kyra auch fiel, das zuzugeben). »Find ich nicht so besonders beeindruckend.«
    »Aber ich « , gab sie trotzig zurück. Das Letzte, was sie jetzt brauchte, war jemand, der ihr erklärte, dass sie anders war.
    Denn normal wollte Kyra mehr als alles andere sein.
    Mochte ihre Mutter auch eine berüchtigte Hexenjägerin gewesen sein, die zahllosen Kreaturen der Hölle den Garaus gemacht hatte; und mochte dieses Erbe auch auf Kyra übergegangen sein – alles, was sie wollte, war, so zu sein wie alle anderen.
    Insgeheim aber wusste sie, dass das unmöglich war. Sie war nun mal eine Trägerin der Sieben Siegel. Und mehr noch als ihre drei Freunde spürte sie die Verantwortung, die mit den magischen Malen einherging.
    »Ist das Konzert schon zu Ende?«, fragte sie.
    Chris schüttelte den Kopf. »Es ist nach zehn. Sie mussten die Lautstärke runterdrehen. Danach war’s langweilig.«
    Das war noch eines der Ärgernisse, die Kyra heute Abend in Kauf nehmen musste. Einmal im Jahr fand auf der Wiese vor Giebelsteins Südtor ein Rockkonzert statt, mit Bands aus der Gegend. Nichts Besonderes, aber irgendwie doch ganz witzig. Einfach rumhängen, über die Musik meckern und zuschauen, wie sich die älteren Jugendlichen lächerlich machten, wenn sie ein paar Bier zu viel getrunken hatten. Kleinstadtattraktionen eben. Trotzdem hätte Kyra eine Menge dafür gegeben, gerade heute dabei sein zu können. Sie hatte eine ihrer »Phasen«, wie Tante Kassandra es nannte. Sie hätte aus allen möglichen Gründen losheulen können, und wenn es auch nur so was Albernes wie ein verpasstes Konzert war. Ihre Tante verstand das gut, aber sie hatte die Theaterkarten schon vor Monaten gekauft, und der Termin ließ sich nun mal nicht mehr verschieben.
    »Dir geht’s nicht gut, oder?«, bemerkte Chris mit leichter Sorge im Blick.
    »Ich komm schon klar. Danke.«
    »Wenn es nur wegen des blöden Konzerts ist, dann –«
    Kyra unterbrach ihn. »Nicht deswegen. Ich bin in Ordnung, wirklich.«
    Einen Augenblick lang sah Chris aus, als wollte er tröstend einen Arm um sie legen. Liebe Güte, dachte Kyra, wenn Lisa das sehen könnte …
    Lisa war schrecklich verliebt in Chris, und alle schienen das zu bemerken, außer Chris selbst. Er wiederum machte Kyra schöne Augen, und eigentlich fand sie das ganz angenehm. Vor allem heute Abend. Sie konnte ein wenig Trost gut gebrauchen, auch wenn sie das um nichts in der Welt offen zugeben würde.
    Aber Chris nahm sie nicht in den Arm. Vielleicht schämte er sich. Kyra redete sich ein, dass es wahrscheinlich ohnehin ziemlich unbeholfen ausgesehen hätte.
    Wenn da einen Moment lang ein Knistern zwischen ihnen in der Luft gelegen hatte, so verschwand es jetzt abrupt.
    Chris atmete tief durch. »Komm, wir gehen ins Haus.«
    Kyra schaute zum Himmel. Keine Spur mehr vom Vollmond, so als hätte ihn ein schwarzes Loch verschluckt, das als Nächstes auch sie selbst, Chris und die ganze Welt verschlingen würde.
    Tante Kassandra nahm Johanniskraut, wenn sie solche Launen hatte. Kyra griff stattdessen zu ihrer lauwarmen Cola, die auf dem Wohnzimmertisch stand. Sie schmeckte wie Spülwasser.
    Chris
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