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Nox Eterna - Die ewige Nacht der Anne Oxter

Nox Eterna - Die ewige Nacht der Anne Oxter

Titel: Nox Eterna - Die ewige Nacht der Anne Oxter
Autoren: Damian Raye
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I
     
    in girum imus nocte et consumimur igni
    Wir irren des Nachts im Kreis umher
    und werden vom Feuer verschlungen
     
    (Quelle unbekannt, der Satz ist ein Palindrom
    und ergibt in beide Richtungen gelesen denselben Sinn)
     
     
     
24. Oktober 2009
    Anne Oxters Kindheit endete endgültig am 24. Oktober 2009 um 17:30 Uhr, an einem wolkenverhangenen Regentag, und im Nachhinein konnte Anne sogar den genauen Ort benennen: Sie saß an ihrem Schreibtisch am Fenster des alten Landhauses in Maidstone, Südengland, wo sie die fünfzehn Jahre, drei Monate, zwölf Tage, 16 Stunden und 44 Minuten ihrer Kindheit verbracht hatte. Zwar hatte sie bei manchem Ereignis zuvor gedacht, dass nun ihre Kindertage vorbei seien, wie damals, als ihr Meerschweinchen plötzlich verschwunden war oder ein paar Monate später, als ihre Lieblingstante Hillary gestorben war.
     
    Doch dieses Mal war sie sich endgültig sicher. Sie spürte, dass sie etwas gewinnen würde, und es war ihr zugleich bewusst, dass sie andere wunderbare Eigenschaften verlieren würde wie die gedankenlose Leichtigkeit und diese grundlose Heiterkeit, die alle glücklichen Kinder besitzen.
     
    Anne trug ihr blaues Kleid, als ihre Kindheit endete, und sie hatte gerade Scones mit Erdbeermarmelade gegessen und Tee dazu getrunken. Anne mochte solche Regentage und ihren Platz an diesem Schreibtisch, dem liebsten all ihrer Möbelstücke, das sie von Tante Hillary geerbt hatte. Er hatte in dem Zimmer mit Blick auf den Garten gestanden, in diesem Licht durchfluteten Raum, der mit wertvollem Zitronenholz getäfelt war, gelb und glatt, dessen wunderbaren Duft sie noch immer zu riechen glaubte, wenn sie an die Tante dachte. Tante Hillary hatte alle ihre Briefe an diesem Schreibtisch geschrieben, und nun war es Anne, die es ihr nachtat und viele ihre Geheimnisse ihrem Tagebuch anvertraute.
     
    Hin und wieder sah sie mit dem leeren Blick einer Träumerin aus dem Fenster, ohne draußen bewusst etwas wahrzunehmen. Dann wieder fesselten die Buchstaben ihres Namens aus dem Scrabble-Spiel ihre Aufmerksamkeit. Die glänzenden Steine lagen auf einem Blatt Papier vor ihr, ein jeder auf seinem Rücken, seinen Buchstaben zum Himmel gestreckt wie eine Botschaft, glänzend und in wunderbar geordneter Unordnung, und ihre Finger griffen wie von selbst danach, wollten sie hin und her schieben, miteinander vermischen.
     

     
    Nach nur wenigen Bewegungen ihre Hände sah Anne ihrem Namen vor sich. Sie liebte diese Buchstaben, die aussahen, als seien sie aus Elfenbein, und schon als Kind hatte sie damit gespielt, bevor sie den Sinn der Zeichen überhaupt verstehen konnte. Seit sie eines Tages entdeckt hatte, dass man sie nicht nur nach den üblichen Spielregeln, sondern auch für eine Art Buchstaben-Orakel verwenden konnte, lagen immer einige von ihnen in kleinen Grüppchen zwischen dem bunten Durcheinander auf ihrem Schreibtisch, zwischen Teetasse, Zeitschriften, Filzstiften, Haargummis, der Tüte mit Gummibärchen und den Kekskrümeln.
     
    Anne war ein wenig schläfrig, eine süße Müdigkeit hat sie erfasst, sie lächelte still. Die Spielsteine mit den tief eingravierten Buchstaben darauf bewegten sich wie von selbst vor ihren Augen wie die Blätter draußen vor dem Fenster, als erfasste sie ein geheimnisvoller Wind und als bräuchten sie die Hilfe ihrer Finger nicht. Sie formten immer neue Zusammenstellungen, Worte oder Wortfetzen, von denen die meisten keinen Sinn ergaben.
     

     
    Dann plötzlich, in einem seltsamen Augenblick voller Bedeutung, schien die Zeit innezuhalten. Die Buchstaben und Annes Hände kamen zur Ruhe, und vor ihren Augen blieben zwei Worte zurück:
     
     

     
    Nox, die Nacht, dachte Anne, und Eterna, die Ewigkeit … ewige Nacht. Ewige Nacht in meinem Namen? Ein wenig erschrocken und aus ihren Tagtraum geweckt, blickte sie auf und sah sich um. Es kam ihr vor, als sei es in den letzten Augenblicken plötzlich dunkler im Zimmer geworden. Die vielen kleinen Bilder an den Wänden ihres Zimmers, sorgfältig in alte Rahmen gefasst und liebevoll angeordnet, versanken im Halbdunkel, waren kaum noch wahrzunehmen. Auch hatte der Wind draußen an Stärke zugenommen, so dass jetzt Regentropfen gegen die Scheiben schlugen als begehrten sie Einlass. Ihre ruhige und beschauliche Stimmung wich einer gewissen Unruhe. Das alte Landhaus ihrer Eltern und Großeltern war ihr nie gespenstisch vorgekommen, seine dunklen Ecken hatten sie nicht erschreckt, denn sie hatte nicht im Traum daran
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