Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Sie

Titel: Sie
Autoren: Stephen King
Vom Netzwerk:
kannte. Sie waren noch gar nicht erfunden. Schlimme Zeiten brauchen schlimme Wörter, nehme ich an, aber das damals war eine bessere Zeit. Sie sollten bei Ihren Misery -Büchern bleiben, Paul. Ich sage das im völligen Ernst. Als Ihr größter Fan.«
    Sie ging zur Tür, wo sie sich zu ihm umdrehte. »Ich werde dieses Manuskript-Buch wieder in Ihre Tasche tun
und stattdessen Miserys Kind zu Ende lesen. Vielleicht nehme ich mir das andere wieder vor, wenn ich damit fertig bin.«
    »Tun Sie das nicht, wenn es Sie zu sehr aufregt«, sagte er. Er versuchte zu lächeln. »Es gefällt mir nicht, wenn Sie sich so aufregen. Ich bin ziemlich von Ihnen abhängig, wissen Sie.«
    Sie erwiderte sein Lächeln nicht. »Ja«, sagte sie. »Das sind Sie. Das sind Sie, nicht, Paul?«
    Sie ging hinaus.

10
    Die Flut ging zurück. Die Pfähle lagen wieder bloß. Er wartete darauf, dass die Uhr schlagen würde. Zwei Schläge. Da waren sie. Er lag auf den aufgeschüttelten Kissen und behielt die Tür im Auge. Sie kam herein. Sie trug eine Schürze über dem Strickpullover und einem ihrer Röcke. In einer Hand hielt sie einen Putzeimer.
    »Ich nehme an, Sie möchten Ihre bedummdusselte Medizin«, sagte sie.
    »Ja, bitte.« Er gab sich Mühe, sie liebenswürdig anzulächeln, und empfand wieder diese Scham - er kam sich selbst grotesk vor, wie ein Fremder.
    »Ich habe sie«, sagte sie. »Aber zuerst muss ich den Schlamassel in der Ecke aufwischen. Den Schlamassel, den Sie angerichtet haben. Sie müssen warten, bis ich damit fertig bin.«
    Er lag im Bett, seine Beine bildeten unter der Decke die Form zerbrochener Äste, kalter Schweiß rann ihm in kleinen
Strömen das Gesicht herunter; er lag da und sah ihr zu, wie sie zur Ecke hinüberging, den Eimer abstellte und dann die Scherben der Schüssel aufsammelte, und sie brachte sie hinaus und kam zurück und kniete sich neben den Eimer und angelte darin herum und holte einen seifigen Lappen heraus und wrang ihn aus und begann, die angetrocknete Suppe von der Wand zu wischen. Er lag da und sah ihr zu und begann schließlich zu zittern, und das Zittern machte seine Schmerzen schlimmer, aber er konnte nichts daran ändern. Einmal drehte sie sich um und sah ihn zittern und das Bettlaken mit seinem Schweiß tränken, da sah sie ihn mit einem so hinterhältigen, wissenden Lächeln an, dass er sie am liebsten umgebracht hätte.
    »Es ist angetrocknet«, sagte sie und drehte das Gesicht wieder in die Ecke. »Ich fürchte, das wird eine Weile dauern, Paul.«
    Sie schrubbte. Der Fleck verschwand langsam von der Wand, aber sie tauchte immer wieder den Lappen ein, wrang ihn aus, schrubbte und wiederholte dann den ganzen Vorgang. Er konnte ihr Gesicht nicht sehen, aber die Vorstellung - die Gewissheit -, dass sie wieder weggetreten war und die Wand noch stundenlang schrubben könnte, peinigte ihn.
    Schließlich - kurz bevor die Uhr einmal schlug, also kurz vor zwei Uhr dreißig - stand sie auf und ließ den Lappen ins Wasser fallen. Ohne ein Wort trug sie den Eimer aus dem Zimmer. Er lag im Bett und lauschte dem Ächzen der Dielen, das ihren schweren, behäbigen Gang begleitete, er hörte, wie sie das Wasser aus dem Eimer schüttete - und, unglaublich, das Aufdrehen des Hahns, als sie neues einließ. Er fing lautlos an zu weinen. Die Flut
war noch niemals so weit zurückgegangen; er konnte nichts anderes sehen als trockengefallenes Watt und die gesplitterten Pfähle, welche ihre ewigen versehrten Schatten warfen.
    Sie kam zurück und blieb nur einen Augenblick in der Tür stehen, wobei sie sein nasses Gesicht mit dieser Mischung aus Strenge und mütterlicher Liebe betrachtete. Dann glitt ihr Blick in die Ecke, wo keine Spur des Suppenflecks mehr zu sehen war.
    »Jetzt muss ich nachwischen«, sagte sie, »sonst wird die Seife einen dunklen Fleck hinterlassen. Ich muss das alles machen; ich muss alles richtig machen. Wenn man allein lebt, so wie ich, ist das keine Entschuldigung, etwas schlampig auszuführen. Meine Mutter hatte einen Leitspruch, Paul, und nach dem lebe ich. ›Einmal übel, nie mehr gut‹, pflegte sie zu sagen.«
    »Bitte«, stöhnte er. »Bitte, die Schmerzen, ich sterbe.«
    »Nein. Sie sterben nicht.«
    »Ich schreie«, sagte er und begann heftiger zu weinen. Das Weinen tat weh. Es tat seinen Beinen weh und seinem Herzen. »Ich kann nichts dagegen tun.«
    »Dann schreien Sie«, sagte sie. »Aber vergessen Sie nicht, dass Sie diese Schweinerei angerichtet haben. Nicht ich. Es ist einzig und
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher