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Die Evangelistin

Die Evangelistin

Titel: Die Evangelistin
Autoren: Barbara Goldstein
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· C ELESTINA ·
K APITEL 1
    »Celestina, ich will dich nachher sehen«, hatte mir der Doge vor einer Stunde zugeflüstert. »Wir müssen reden!«
    Er wirkte so besorgt, ja beinahe ängstlich. Was war bloß geschehen?
    Gedankenverloren lehnte ich an der Säule von San Marco auf dem Molo und wartete unruhig auf sein Erscheinen und den Beginn der feierlichen Zeremonien.
    Dann endlich wehte der Ruf über die Piazzetta: »Der Doge!«
    Die dicht gedrängte Menge hielt den Atem an und reckte die Köpfe, als Leonardo Loredan den Palazzo Ducale durch die prächtige Porta della Carta verließ. Mit seinem Gefolge, den Prokuratoren von San Marco, den Mitgliedern des Zehnerrates in ihren schwarzen Seidenroben und etlichen rotgewandeten Senatoren, schritt er durch das wogende Menschenmeer zum Molo.
    Still war es auf der überfüllten Piazzetta. Nur das Schreien der Möwen, das Flattern der auffliegenden Tauben von der Basilica di San Marco und das Knattern des großen purpurfarbenen Banners mit dem goldgestickten Löwen auf dem Bucintoro durchbrach das Schweigen.
    Der Wind vom Meer brachte keine Kühlung an diesem schwülheißen Himmelfahrtstag des Jahres 1515. Die Wellen schwappten über die mit Algen bewachsenen Stufen des Molo, und die schwankenden Gondeln schlugen gegeneinander.
    Ein Sturm zog herauf.
    Dröhnend kündigten die großen Glocken von San Marco den Beginn der feierlichen Prozession an.
    Der Doge winkte den Zuschauern unter den Arkaden und auf der Loggia des Palazzo Ducale zu, während er zur goldenen Staatsgaleere hinüberschritt, wo ihn der Patriarch mit seinem Gefolge erwartete.
    Tristan hielt sich direkt hinter dem Dogen. Seine schwarze Seidenrobe, die ihn als Mitglied des Consiglio dei Dieci auswies, flatterte in der leichten Brise dieses glühend heißen Maitages.
    Als er mich neben der Säule des geflügelten San-Marco-Löwen am Molo entdeckte, winkte er mir verstohlen zu.
    Ich wandte den Blick ab, als hätte ich ihn nicht bemerkt, und beobachtete den Flug der Möwen, die sich vom Dach des Palazzo Ducale in die Tiefe stürzten, um über den Hafen auf die Lagune hinauszufliegen.
    In diesem Augenblick drängte sich jemand von hinten gegen mich und warf mich dabei fast um. Seine Hand lag vertraulich auf meiner nackten Schulter. Schon wollte ich mich zu ihm umwenden, als er seinen Arm um meine Taille schlang und neben mich trat.
    »Venedig hat hunderttausend Einwohner, und alle drängen sich heute auf der Piazza San Marco, der Piazzetta, dem Molo und der Riva degli Schiavoni. Oder sie rudern in ihren geschmückten Gondeln auf der Lagune«, lächelte er verschmitzt. »Und doch ist es nicht schwer, dich zu finden, Celestina.«
    »Baldassare!«, freute ich mich. »Wie schön, dich zu sehen! Was machst du in Venedig?«
    Baldassare Castiglione, obwohl wesentlich älter als ich – er war siebenunddreißig, ich war fünfundzwanzig –, war ein sehr attraktiver Mann, hoch gewachsen, schlank und athletisch. Seine eisblauen Augen bezauberten mich jedes Mal, wenn er mich ansah wie gerade jetzt. Sein gepflegter Bart und seine aufrechte Haltung verliehen ihm ein sehr würdiges Aussehen. Als Baldassare vor einigen Jahren nach London gereist war, hatte ihn der englische König voller Hochachtung ›einen wahren Sir‹ genannt, und so musste Raffaello ihn in Rom porträtiert haben.
    »Ich war auf dem Weg von Rom nach Mantua. Glaubst du, ich lasse mir ein grandioses Spektakel wie Venedigs Vermählung mit dem Meer entgehen?« Baldassares Geste umfasste die ganze lichtfunkelnde Lagune. »Oder ein Wiedersehen mit dir?«, lachte er fröhlich und hauchte mir einen Kuss auf die Wange. »Dies ist ein Gruß von Raffaello.«
    Nun küsste er mich auf die andere Wange:
    »Diesen Kuss sendet dir Seine Heiligkeit. Papst Leo lässt fragen, wann du endlich nach Rom kommst. Die Tore des Vatikans stehen dir weit offen! Ich fürchte, der Heilige Vater wird dich exkommunizieren, wenn du nicht bald deine Reisetruhen packst.«
    Aus dem Augenwinkel bemerkte ich, wie Tristan neugierig zu uns herübersah.
    Baldassare hatte meinen Blick bemerkt. »Ist er dein Geliebter?«
    Ich nickte.
    »Ihr seid ein schönes Paar«, urteilte mein Freund nach einem forschenden Blick auf Tristan, den er bisher nur aus meinen Briefen kannte. »Trotz eurer Jugend habt ihr es weit gebracht auf der steilen Treppe des Ruhms. Tristan ist einer der mächtigsten Männer der Regierung von Venedig. Und du bist eine berühmte Gelehrte. Ihr liebt euch mit aller Leidenschaft. Das
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