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Die Evangelistin

Die Evangelistin

Titel: Die Evangelistin
Autoren: Barbara Goldstein
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energischen Geste fegte er mein Argument beiseite. »Tristan wird morgen sein Amt als Vorsitzender des Consiglio dei Dieci antreten. Sollte er nächstes Jahr nicht in den Rat der Zehn wiedergewählt werden, stehen ihm alle anderen Ämter der Republik offen. Er kann Prokurator werden. Und in einigen Jahren Doge. Das kann er aber nur, wenn er verheiratet ist! Ein Doge braucht eine Dogaressa! Und einen sittlich vollkommenen Lebenswandel.«
    Ich sagte nichts.
    »Tristan ist siebenundzwanzig. Ich bin achtundsiebzig. Vielleicht bleiben mir trotz meiner Krankheit noch ein paar Jahre. Ich will, dass Tristan mir eines Tages nachfolgt.«
    »Der Doge wird in geheimer Abstimmung gewählt. Jeder adelige Venezianer kann Staatsoberhaupt werden«, erinnerte ich ihn. »Du kannst deinen Nachfolger nicht bestimmen.«
    »Nein, aber viele Kandidaten für dieses Amt gibt es nicht. Der Prokurator Antonio Grimani ist inzwischen einundachtzig Jahre alt. Glaubst du, dass der Maggior Consiglio ihn in dieser verzweifelt schwierigen Zeit von Krieg, Not und wirtschaftlichem Niedergang zum Dogen wählen wird? Glaubst du, der ehemalige Admiral der Flotte kann als Steuermann das festgefahrene Staatsschiff in ruhigere Gewässer lenken? Nun ja, wenn ich es mir überlege, ist der alte Grimani vielleicht doch noch eine bessere Wahl als sein und mein Lieblingsfeind Antonio Tron.
    Ich jedenfalls werde alles tun, um zu verhindern, dass dein Cousin Antonio Doge wird. Der Prokurator behauptete vor wenigen Tagen im Maggior Consiglio wieder einmal, ich sei unfähig: ›Nichts in dieser Stadt wird in Ordnung kommen, solange Leonardo Loredan regiert!‹ Dieser widerwärtige Intrigant!
    Ich denke, es ist auch in deinem Sinne, wenn Antonio nicht Doge wird. Er wird dich wieder ins Exil schicken – wie vor fünf Jahren nach dem Tod deiner Eltern. Das nächste Mal kann ich dir nicht helfen, Celestina. Oder er lässt die Staatsinquisition dein Haus durchsuchen und dich im Gefängnis verschwinden. Die verbotenen Bücher in deiner Bibliothek werden die römische Inquisition nach Venedig bringen. Und du weißt, wie das Urteil lauten wird!«
    Er sah mich scharf an, dann drang er weiter in mich:
    »Ich glaube, dass Tristan ein besserer Doge sein wird als Grimani und Tron. Er ist jung, selbstbewusst, hat hohe Ideale und eine großartige Vision von Venedig. Tristan ist der Mann, der Papst Leo, König François und Kaiser Maximilian Widerstand leisten kann. Das Kämpfen hat er bei deinem Vater gelernt. Die Venier gehören zum alten venezianischen Adel. Auf diesen Fundamenten wurde Venedig erbaut!
    Tristan ist ein Nachkomme des großen Dogen Antonio Venier. Unter seiner Herrschaft war Venedig der mächtigste Staat Europas. Antonio Venier ist eine Ikone, sein Name steht für die Unbesiegbarkeit der venezianischen Seemacht. Aber eine Ikone muss glänzen, Celestina, sie darf nicht in den Schmutz gezogen werden. Der künftige Doge Tristan Venier muss unangreifbar sein. Und das bedeutet, dass ihr beide heira…«
    »Ich will nicht heiraten!«
    »Celestina, sei vernünftig!«, beschwor er mich. »Du bist die ideale Dogaressa. Du bist gebildet, besonnen, charmant und sprichst mehrere Sprachen. Du bist die Frau, die Tristan an seiner Seite braucht.«
    Unbeherrscht sprang ich auf und lief zum Fenster, um in den Innenhof des Palazzo Ducale hinabzusehen. Die niederrauschende Sintflut überschwemmte den Cortile. Ich lehnte meine Stirn gegen die Glasscheiben, schloss die Augen und dachte nach.
    Selbst eine Frau aus einer reichen und adeligen Familie war in Venedig nicht finanziell unabhängig. Der Besitz, den sie mit in die Ehe brachte, gehörte fortan ihrem Gemahl. Sie durfte nicht allein reisen und nicht einmal allein das Haus verlassen, um am Sonntag zur Messe zu gehen. Eine Frau war in Venedig nur die juwelengeschmückte Zierde am Arm ihres Mannes, die mit sittsam gesenktem Blick zu schweigen hatte.
    Mein Vater hatte mir sein Vermögen hinterlassen: einen großartigen Palazzo am Canal Grande, ein ebenso schönes Haus unterhalb der Akropolis von Athen und eine kostbare Büchersammlung, die die respektvolle Bezeichnung Bibliothek verdiente. Ich war unabhängig. Und frei.
    Im Dogenpalast wäre ich eingesperrt gewesen wie ein Vogel in einem goldenen Käfig. Tristan und ich besaßen prächtige Palazzi. Mein Arbeitszimmer war so groß wie der Empfangssaal der Dogenwohnung. Meine umfangreiche Bibliothek hätte ich in diesen Räumen niemals unterbringen können. Dort gab es keinen
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