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Die Evangelistin

Die Evangelistin

Titel: Die Evangelistin
Autoren: Barbara Goldstein
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Marmortreppe empor in den ersten Stock, wo sich der prächtige Empfangssaal mit Blick auf den Canalazzo befand, und von dort aus hinauf zum Arbeitszimmer im zweiten Stock.
    Noch nie war mir dieser großartige und für mich viel zu große Palazzo so verlassen erschienen wie an diesem Abend: Seit dem Tod meiner Eltern standen die meisten Räume leer. Noch nie hatte ich mich so einsam gefühlt – nicht einmal in jener Nacht, als ich überstürzt nach Athen fliehen musste, um mein Leben zu retten.
    Ich betrat mein Arbeitszimmer mit der Bibliothek. Es war fast dunkel in dem großen Raum, dessen fünf große Fenster mit den filigranen Spitzbögen tagsüber das Funkeln der Wellen des Canalazzo einfingen. Die Sonne war inzwischen untergegangen, und von Osten her zog die Nacht herauf.
    Ich riss mir die nassen Kleider vom Leib. Nackt setzte ich mich in den mit purpurrotem Leder bezogenen Stuhl vor meinen Schreibtisch und schlang die Arme um die angezogenen Knie. Eine Weile saß ich so, still und in mich gekehrt, und starrte die Bücher in den Regalen an, die Manuskriptseiten auf meinem mit Folianten, Tintenfass, Federspitzer, Siegelwachs, Sandstreuer und einem Bündel Gänsefedern bedeckten Schreibtisch.
    Ich zog das Buch zu mir heran, mit dem ich zuletzt gearbeitet hatte: Giovanni Pico della Mirandolas Conclusiones . Seine berühmten neunhundert Thesen, die er 1486 in Rom mit den Kardinälen disputieren wollte und für die er vom Inquisitionstribunal exkommuniziert worden war. Giovanni Pico war der Scheiterhaufen erspart geblieben – seinen Büchern nicht. Dies war eines der wenigen Exemplare der Conclusiones , die noch existierten.
    Traurig blätterte ich durch das Buch und las hier und da eine seiner Thesen: ›Intellectus agens nihil aliud est quam Deus – Der aktive Verstand, das Denkvermögen, die Einsicht, ist nichts anderes als Gott‹, und ein paar Seiten zuvor: ›Tota libertas est in ratione essentialiter – Alle Freiheit existiert nur im Verstand.‹
    Kein Wunder, dass die Kirche dieses wundervolle Buch verboten hatte! Konnte ich … durfte ich Leonardos eindringlicher Bitte entsprechen, dieses Werk verbrennen und seine Asche in den Wind verstreuen? Und was war mit all den anderen Büchern in diesem Raum, den christlichen und muslimischen, arabischen, griechischen und lateinischen Schriften, verfasst von Kardinälen und Patriarchen, Kirchenvätern und Gelehrten, Ketzern auf dem Thron des Papstes und Heiligen auf dem Scheiterhaufen?
    Wenn ich Giovanni Picos Conclusiones verbrennen würde, obwohl er selbst nie gerichtet worden war, was war dann mit Fra Girolamo Savonarolas Meditationen ? Der Mönch, den viele Florentiner für einen Heiligen und Märtyrer und alle anderen für eine Geißel Gottes hielten, war auf dem Scheiterhaufen gestorben. Nachdem ich seine tiefsten Gedanken, die er im Gefängnis niederschrieb, gelesen hatte, war ich überzeugt, dass er weder das eine noch das andere war. Er war ein Mensch, schwach und fehlbar, der die Wahrheit suchte und auf diesem steinigen Weg stolperte, stürzte, scheiterte. Denn die Wahrheit gab es nicht. Nicht einmal zwei Menschen, die in allem übereinstimmten wie Tristan und ich, konnten sich darüber einigen, was Wahrheit ist.
    Tristan liebte mich zu sehr, um zu verlangen, dass ich meine verbotenen Bücher verbrannte. Er ließ mich gewähren, obwohl ihn meine Arbeit als Humanistin in einen furchtbaren Gewissenskonflikt stürzte. Er glaubte an die eine, allein seligmachende Wahrheit.
    Tristan hatte nicht, wie ich, einen katholischen Vater und eine griechisch-orthodoxe Mutter. Er hatte nicht jahrelang im orthodoxen und von Muslimen beherrschten Athen gelebt. Er hatte keine Forschungsreisen nach Istanbul und Alexandria unternommen, um alte Schriften in Bibliotheken zu suchen. Er hatte sich nicht durch die Gluthitze der Wüste Sinai zum Katharinenkloster gequält, hatte nicht nachts am Lagerfeuer in der Wüste mit den Beduinen sehr leidenschaftlich über die Suren des Korans diskutiert. Er hatte seine Kindheit nicht im ›Königreich der Himmel‹ verbracht, um von den wunderbaren Früchten der Erkenntnis zu kosten, die ich genossen hatte.
    Für Tristan gab es nur eine Wahrheit. Nie hatte er gezweifelt und sich die Fragen gestellt, auf die es keine Antwort gibt. Wer einmal, wie ich, angefangen hatte zu denken, zu zweifeln, zu fragen und sich, da es niemand anderer tat, auch die Antworten zu geben, konnte damit nicht mehr aufhören, denn er stellte am Ende alles in Frage:
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