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Sie

Titel: Sie
Autoren: Stephen King
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allein Ihre Schuld.«
    Irgendwie gelang es ihm, nicht zu schreien. Er sah zu, wie sie den Lappen eintauchte und auswrang und dann wischte, eintauchte und auswrang und wischte. Dann endlich, als die Uhr - im Wohnzimmer, wie er vermutete - drei schlug, stand sie auf und ergriff den Eimer.
    Sie wird jetzt hinausgehen. Sie wird hinausgehen, und ich werde hören, wie sie das Spülwasser in den Ausguss
kippt, und dann kommt sie vielleicht stundenlang nicht zurück, weil sie noch nicht fertig damit ist, mich zu bestrafen.
    Aber anstatt zu gehen, kam sie ans Bett und suchte in der Tasche ihrer Schürze. Sie holte nicht zwei Kapseln heraus, sondern drei.
    »Hier«, sagte sie zärtlich.
    Er stopfte sie sich in den Mund, und als er aufsah, hielt sie ihm den gelben Putzeimer entgegen. Er füllte schließlich sein ganzes Gesichtsfeld aus wie ein herniederstürzender Mond. Graues Wasser schwappte über den Rand auf die Bettdecke.
    »Spülen Sie sie damit hinunter«, sagte sie. Ihre Stimme war immer noch zärtlich.
    Er starrte sie mit weiten Augen an.
    »Los doch«, sagte sie. »Ich weiß, dass Sie sie trocken hinunterschlucken können, aber bitte glauben Sie mir, wenn ich Ihnen sage, dass ich Mittel und Wege kenne, damit sie gleich wieder hochkommen. Schließlich ist es nur Wischwasser. Es wird Ihnen nicht schaden.«
    Sie ragte wie ein Monolith über ihm auf und hielt den Eimer ein wenig geneigt. Er konnte sehen, wie sich der Lappen langsam in der grauen Brühe drehte wie ein ertrunkener Kadaver; er sah die dünne Schicht Seife obenauf schwimmen. Ein Teil von ihm stöhnte innerlich, aber nichts in ihm zögerte. Er trank hastig, spülte die Tabletten hinunter und stellte fest, dass der Geschmack wie damals war, wenn seine Mutter ihn gelegentlich gezwungen hatte, sich die Zähne mit Seife zu putzen.
    Sein Magen drehte sich, und er gab einen erstickten Laut von sich.

    »Ich würde mich nicht übergeben, Paul. Vor neun Uhr abends gibt es keine mehr.«
    Sie sah ihn einen Moment mit ihrem leeren, nichtssagenden Blick an, dann leuchtete ihr Gesicht auf, und sie lächelte.
    »Sie werden mich nie mehr so aufregen, nicht wahr?«
    »Nein«, flüsterte er. Den Mond erzürnen, der die Flut brachte? Was für eine Idee! Was für eine dumme Idee!
    »Ich liebe Sie«, sagte sie und küsste ihn auf die Wange. Sie ging, ohne sich noch einmal umzudrehen, und trug den Putzeimer so, wie eine kräftige Bäuerin eine Milchkanne tragen mochte, ohne je darüber nachzudenken, etwas vom Körper weg, damit nichts verschüttet wurde.
    Er legte sich zurück und schmeckte Staub und Putz in Mund und Kehle. Schmeckte Seife.
    Ich werde nicht kotzen … werde nicht kotzen … werde nicht kotzen.
    Schließlich spürte er, wie dieser Gedanke an Dringlichkeit verlor, und ihm wurde bewusst, dass er einschlafen würde. Er hatte alles lange genug unten behalten, damit die Medizin ihre Wirkung tun konnte. Er hatte gewonnen.
    Diesmal.

11
    Er träumte, dass er von einem Vogel gefressen wurde. Es war kein guter Traum. Es gab einen Knall, und er dachte: Ja, gut, weiter so! Erschießt ihn! Erschießt das verdammte Vieh!
    Dann erwachte er und wusste, es war lediglich Annie Wilkes, die die Hintertür zugeschlagen hatte. Sie war hinausgegangen,
um die täglichen Arbeiten auf dem Hof zu erledigen. Er hörte das dumpfe Knirschen ihrer Schritte im Schnee. Sie ging an seinem Fenster vorbei; sie hatte einen Parka an und die Kapuze übergezogen. Ihr Atem wehte in einer Wolke vor ihr her und wurde von ihrem Gesicht auseinandergetrieben. Sie sah nicht zu ihm herein, er vermutete, dass sie sich ganz auf die Arbeiten im Stall konzentrierte. Die Tiere füttern, den Stall ausmisten, vielleicht ein paar Runen werfen - bei ihr hätte ihn das nicht verwundert. Der Himmel hatte eine dunkle Purpurfärbung angenommen - Sonnenuntergang. Siebzehn Uhr dreißig, vielleicht achtzehn Uhr.
    Die Flut war noch nicht zurückgegangen, und er hätte wieder einschlafen können - er wollte wieder einschlafen -, aber er musste über diese bizarre Situation nachdenken, solange er noch vernünftig denken konnte.
    Das Schlimmste war, wie er herausfand, dass er nicht einmal darüber nachdenken wollte, selbst als er es konnte, wenngleich ihm bewusst war, dass er der Situation nur dann ein Ende würde machen können, wenn er darüber nachdachte. Sein Verstand versuchte, das Thema von sich zu schieben, wie ein kleines Kind seinen Teller von sich schiebt, obwohl man ihm gesagt hat, dass es erst vom Tisch aufstehen darf,
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