Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Sie

Titel: Sie
Autoren: Stephen King
Vom Netzwerk:
ich.« Sie sah ihn ein klein wenig missbilligend an - aber, wie schon zuvor, nicht ohne eine Spur von Liebe. Es war ein mütterlicher Blick. »Im neunzehnten Jahrhundert gab es keine Autos, ob nun schnell oder langsam!« Sie kicherte über ihren kleinen
Scherz. »Ich habe mir auch die Freiheit genommen, ein wenig darin zu blättern … Das stört Sie doch hoffentlich nicht?«
    »Bitte«, stöhnte er. »Nein, aber bitte …«
    Sie neigte die linke Hand. Die Kapseln rollten, zögerten, dann fielen sie mit einem kaum hörbaren Klickern wieder in ihre rechte Hand.
    »Und wenn ich es lesen würde? Würde es Ihnen etwas ausmachen, wenn ich es lesen würde?«
    »Nein …« Seine Knochen waren zerschmettert. Seine Beine waren mit eiternden Glassplittern gespickt. »Nein …« Er verzog das Gesicht - wie er hoffte - zu einem Lächeln. »Nein, selbstverständlich nicht.«
    »Denn ohne Ihre Einwilligung würde ich so etwas selbstverständlich niemals tun«, sagte sie ernst. »Dazu respektiere ich Sie zu sehr. Tatsächlich liebe ich Sie, Paul.« Plötzlich und auf beunruhigende Weise wurde sie purpurrot. Eine der Kapseln fiel ihr aus der Hand und auf die Bettdecke. Paul griff danach, aber sie war schneller. Er stöhnte, aber sie beachtete es nicht. Nachdem sie die Kapsel an sich genommen hatte, wurde sie wieder abwesend und sah zum Fenster. »Ihren Verstand «, sagte sie. »Ihre Kreativität . Das habe ich gemeint.«
    In seiner Verzweiflung sagte er, weil ihm nichts anderes einfiel: »Ich weiß. Sie sind mein größter Fan.«
    Dieses Mal lief sie nicht nur einfach warm, sie leuchtete auf . »Das ist es!«, rief sie aus. »Genau das ist es! Und es macht Ihnen nichts aus, wenn ich es in dieser Eigenschaft lese, nicht wahr? Mit aller Liebe eines … eines Fans? Auch wenn mir Ihre anderen Bücher nicht so gut gefallen wie die Misery -Romane?«

    »Nein«, sagte er und schloss die Augen. Meinethalben kannst du Papierhüte aus den Manuskriptseiten falten, wenn du möchtest, aber … bitte … ich sterbe hier …
    »Sie sind so gütig «, sagte sie sanft. »Ich habe immer gewusst , dass Sie das sein würden. Als ich Ihre Bücher gelesen habe, da wusste ich es. Ein Mann, der Misery Chastain erfinden konnte, der sie sich erst ausdenken und ihr dann Leben einhauchen konnte, der kann nicht anders sein.«
    Plötzlich waren ihre Finger in seinem Mund, eine schockierend intime Geste, aber auf schmutzige Weise höchst willkommen. Er saugte die Kapseln zwischen ihnen heraus und schluckte sie, noch bevor sie ihm das Wasserglas an den Mund halten konnte.
    »Wie ein Baby«, sagte sie, aber er konnte sie nicht sehen, weil er die Augen geschlossen hatte, und nun spürte er, wie seine Tränen zu fließen begannen. »Aber gütig. Ich möchte Sie so vieles fragen … möchte so vieles wissen.«
    Die Federn ächzten, als sie aufstand.
    »Wir werden hier sehr glücklich sein«, sagte sie, und wenngleich ein Blitzschlag des Entsetzens in Pauls Herz fuhr, öffnete er immer noch nicht die Augen.

8
    Er trieb dahin. Die Flut kam, und er trieb darin. Im Nebenzimmer tönte das Fernsehgerät eine Weile, dann nicht mehr. Manchmal schlug die Uhr, und er versuchte, die Schläge zu zählen, aber er verzählte sich immer mittendrin.
    I. v. Durch Schläuche. Daher stammen die Narben an Ihren Armen.

    Er stützte sich auf einen Ellbogen und tastete nach der Lampe, und schließlich gelang es ihm, sie einzuschalten. Er betrachtete seine Arme und sah in der Armbeuge verblassende, einander überlagernde Farbschattierungen von Purpur und Ocker, in der Mitte eines jeden Blutergusses ein mit schwarzem Blut gefülltes Loch.
    Er legte sich zurück, starrte an die Decke und lauschte dem Heulen des Windes. Er befand sich beinahe auf dem Gipfel der Great Divide, der ›Großen Wasserscheide‹ der Rocky Mountains, es war tiefer Winter, er war in der Gewalt einer Frau, die nicht ganz richtig im Kopf war, einer Frau, die ihn intravenös ernährt hatte, als er bewusstlos gewesen war, einer Frau, die einen offenbar unerschöpflichen Vorrat an Drogen besaß, einer Frau, die niemandem gesagt hatte, dass er hier war.
    Das alles war wichtig, aber allmählich wurde ihm klar, dass etwas anderes noch wichtiger war: Die Flut ging bereits wieder zurück. Er begann auf das Läuten ihres Weckers im Obergeschoss zu warten. Er würde noch geraume Zeit nicht läuten, aber er musste allmählich anfangen, darauf zu warten.
    Sie war verrückt, aber er brauchte sie.
    Oh, ich stecke in verdammten
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher