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Sichelmond

Sichelmond

Titel: Sichelmond
Autoren: Stefan Gemmel
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war, als bildeten die unzähligen winzigen Wesen in dieser Halle ohne Ende einen unüberschaubaren Schwarm vergnügter Tänzer, und die Melodie dazu war einzig die freudige Erwartung tief in ihnen.
    »Ich könnte für alle Zeit hier stehen und zuschauen.« Die Worte wurden geflüstert. Kaum hörbar. Auf keinen Fall sollten die Seelen gestört werden.
    »Ich auch«, war die Antwort. »Ich kenne nichts, was ähnlich viel Frieden ausstrahlt wie der Anblick dieser Wände mit ihren Kojen.«
    Ein leichter Windhauch fegte durch die Halle. Er war warm und fühlte sich wie ein Streicheln auf der Haut an.
    Die beiden wandten sich um, in die Richtung, aus der dieser Windhauch sie berührt hatte. Und augenblicklich zog sich ein Lächeln über ihre Gesichter.
    »Schön, dass du da bist.«
    Rouven kam auf sie zu und nahm sie in seine Arme. »Schön, euch hier zu haben«, gab er zur Antwort.
    Er genoss für einen Moment die Nähe von Tabitha und Nana, dann galt sein Blick wieder den Kojen in den Wänden. »Wie geht es ihnen heute?«
    »Sie sind glücklich. So wie wir.«
    Er nickte. »Nach allem, was geschehen ist, hätte ich niemals geglaubt, dass es so enden könnte.«
    Sie drehten sich wieder den Kojen zu und beobachteten die Schatten der wartenden Seelen hinter den Vorhängen.
    »Darf ich dich etwas fragen?«, wandte sich Tabitha an Rouven.
    »Natürlich.«
    Sie sah ihn fest an. »Hast du es gewusst?«, fragte sie. »Oder hast du geahnt, dass alles so kommen könnte, als du dich auf Jachael gestürzt hast, in der Nacht vor der Kapelle?«
    Rouven schüttelte den Kopf. »Hätte ich es gewusst, dann hätte ich nicht solch eine Angst gehabt in diesem Moment.« Er blickte sich um. »Nein. Ich wusste es nicht. Wie hätte ich auch? Mein Wunsch war es, das alles zu Ende bringen. Selbst wenn ich mit meinem Leben dafür bezahlt hätte. Aber woher hätte ich wissen sollen, dass ich auch ohne mein Herz, ohne mein eigentliches Leben, meine Aufgabe als Wächter über die Halle der Seelen wahrnehmen kann? Und wie hätte ich von meinem Glück wissen können, dass ich euch jetzt, wo ihr keine Sterblichen mehr seid, mit in meine Welt nehmen darf?«
    Nana lachte plötzlich auf. »Jachael hat uns einen großen Gefallen getan, oder? In Wahrheit hat er uns Glück gebracht.«
    Rouven nickte, und Tabitha fragte: »Ob er das wohl weiß?«
    »Lasst uns nach ihm schauen«, schlug Rouven vor und führte die beiden durch die lange Halle der Seelen bis hin zu einem Raum, in dem sie bereits viel Zeit verbracht hatten. Er war gewölbeartig angelegt. Die Decke dieses Raumes spannte sich in einem hohen Bogen über den runden Tisch, der sich in der Mitte befand und den größten Teil des Raumes einnahm. Rouven, Tabitha und Nana traten dicht heran.
    Rouven griff nach dem Buch, das sich auf der Mitte des Tisches befand. Sein Buch mit den alten Schriften, mit seinen Symbolen. Hier hatte es seinen Platz.
    Beinahe ehrfürchtig schlug Rouven den Deckel auf und blätterte darin, bis die Seite vor ihm lag, die ihm silbern entgegenschimmerte. Wie lange war es nun her, dass er noch überlegen musste, was diese Seiten zu bedeuten hatten. Jetzt, hier, in seiner Welt, legte er beide Hände wie selbstverständlich auf die Buchseiten und beobachtete,wie durch diese Berührung das leichte Schimmern heller und heller wurde, bis die Doppelseite des Buches wie ein silberner Spiegel wirkte. Allmählich ergab sich darin ein Bild. Es zeigte das Innere der Kapelle auf der Erde, so wie sie den dreien noch immer sehr vertraut war. Sie war heller als bisher, was auf das zweite Fensterbild zurückzuführen war, das man eingebaut hatte, kurz nach der Nacht, in der Rouven mit den Seelenschützern Jachael entgegengetreten war.
    Er, Tabitha und Nana beugten sich nun weit über die silbernen Buchseiten. Nun konnten sie wie durch ein Fernglas die Welt betrachten. Sie sahen Mayers und Tallwitz, wie sie gerade in diesem Moment in dem Raum standen. Die beiden Männer blickten grübelnd auf den Boden der Kapelle. Sie sahen auf eine Marmorplatte, auf der golden das Zeichen Rouvens prangte: der Sichelmond mit der Vogelkralle darunter.
    »Es hat sich nichts verändert«, sagte Rouven. »Und es wird sich nichts verändern. Jachael ist dort eingeschlossen. Auf immer. Als er mein Herz herausgerissen und es vor der Kapelle zertreten hatte, da zerstörte er auch sein eigenes Herz. In seiner Raserei hatte er wohl vergessen, dass unsere Leben aneinandergebunden sind. Dass mein Schicksal auch seines bedeutete.
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