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Sichelmond

Sichelmond

Titel: Sichelmond
Autoren: Stefan Gemmel
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nicht. Rouven zitterte. Er konnte seine Angst nicht verbergen. Er traute Jachael alles zu. Er glaubte ihm jedes Wort. Gerade jetzt und hier, in seiner aussichtslosen Lage. Es gab nur einen einzigen Weg für ihn: Er musste Jachael töten und mit ihm gemeinsam untergehen. Nur dies zählte in diesem Moment.
    Rouven ging in sich und stellte sich nur eine einzige Frage: War er bereit zu sterben?
    Er dachte an Tabitha und an Nana. Er rief sich die Seelenschützer in Erinnerung. Es gab ihm einen Stich ins Herz, dass er sie alle nie wieder sehen konnte. Denn er hatte sich entschieden. Er würde sterben. In der Gewissheit, sie alle gerettet zu haben.
    Er streckte die Arme aus und bereitete sich auf die Verwandlung vor. Er wollte Jachael als Krähe gegenübertreten.
    Auch Jachael gab sich der Verwandlung hin. Er gab den letzten Rest seiner Menschengestalt auf. Als riesiger Stier stand er Rouven gegenüber.
    Rouven bewegte seine Flügel. Er blickte zu den Flügelspitzen. Messerscharf und stahlhart waren sie seine wichtigsten Waffen neben seinem Schnabel und den pfeilspitzen Krallen. Sie zusammen mit seiner Schnelligkeit waren das Einzige, was er der Übermacht an Stärke und Kraft Jachaels entgegenstellen konnte.
    Ein letztes Mal blickten sie sich fest in die Augen, dann stürmten sie aufeinander los. Wie auf ein vereinbartes Zeichen, wie auf einen Befehl hin, der aus ihrem tiefsten Inneren zu kommen schien, streckten sie Hufe und Flügel aus und verkeilten sich in der Mitte der Kapelle. Jachael versuchte Rouven mit den Hörnern aufzuspießen, Rouven versuchte Jachael die Flügelspitzen in die Seiten zu rammen. Keiner bot dem anderen eine Angriffsfläche, nicht einmal die Zähne Jachaels oder die Schnabelspitze Rouvens trafen ein Ziel. Sie mühten sich ab, bis Jachael mit einem Ruck Rouven von sich stieß und sich erneut vor ihm aufbaute. Die Nüstern weit geöffnet, von Dampf und Rauch umgeben, der teils aus der Nase und teils aus den Flammen an seinen Hufen emporstieg.
    Rouven erinnerte sich an seine allererste Attacke, und noch einmal konzentrierte er sich auf einen sekundenschnellen Angriff. Und tatsächlich, keinen Augenschlag später vergrub sich seine Schnabelspitze bereits in Jachaels Hals, der einen überraschten Schrei tat. Er rammte Rouven seine Hufe mit solcher Kraft in den Bauch, dass Rouven keuchend von ihm ablassen musste.
    Die Krähe tappte ein paar Schritte zurück, um zu Atem zu kommen, von dem Stier beobachtet. Unbemerkt von Rouven wandelte Jachael seine vorderen Hufe zu Händen um. Er verschanzte sich so hinter einer Kirchenbank, dass Rouven den Unterschied nicht bemerken konnte.
    Dessen Angriff ließ nicht lange auf sich warten. Schnell hatte Rouven seine Kräfte wiedererlangt, und schon drehte er sich zu Jachael um und startete einen erneuten Angriff. Jachael hatte damit gerechnet. Doch anstatt Rouven die Hörner entgegenzuhalten, drehte er sich auf der Stelle um. Noch im Flug auf Jachael wunderte sich Rouven über diese Reaktion, aber schon in der nächsten Sekunde sah er mit Entsetzen, was Jachael bezweckte. Er stellte sich rasch auf seine Hinterhufe und hielt mit seinen menschlichen Händen das Glas mit Tabithas pochendem Herzen vor seine eigene Brust.
    Rouven schrie auf. Es war zu spät, den Angriff abzubrechen. Mit all seiner Wucht stieß er mit dem Schnabel in das Glas. Es zerschellte. Tausende winziger Glassplitter flogen durch die Luft, und Rouvens Schnabelspitze durchbohrte das Herz Tabithas.
    Jachael lachte donnernd auf, doch Rouven sank schreiend zu Boden. Noch im Fall griff er mit seinen Flügeln nach dem Herzen und fing es auf. Kaum, dass er die Erde berührt hatte, verwandelte er sich wieder in seine Menschengestalt. Alles geschah in wenigen Augenblicken, doch Rouven erschien es, als spiele sich das alles in Ewigkeiten vor ihm ab. In seinen menschlichen Händen hielt er das durchstochene Herz. Tabithas Herz. Ihre einzige Hoffnung, wieder menschlich werden zu können. Er hatte sie erneut getötet. Er hatte ihr wieder das Leben genommen   – ihre Möglichkeit, Mensch zu werden.
    Noch einmal schrie Rouven auf. Es war ein Schrei aus tiefster Seele heraus.
    Jachael lachte noch immer. »Ups!«, gab er von sich, dann versetzte er Rouven einen Stoß mit seinem Huf, dass dieser über den Kapellenboden schlitterte. Mit Wucht wurde Rouven gegen die Wand, direkt neben der grünen Eingangstür, gestoßen, das Herz Tabithas noch immer fest in den Händen.
    Jachael jauchzte vor Begeisterung. Er brüllte
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