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Sichelmond

Sichelmond

Titel: Sichelmond
Autoren: Stefan Gemmel
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sich.
    »Nein!«, kreischte er in die Stille hinein. Er stützte sich auf die Hände, ließ den Kopf hängen, so dass ihm die Tränen heiß über Wangen, Kinn und Mund rannen.
    »Nein!«
    Seine Stimme versagte.
    Alles in ihm bestand aus einem verzweifelten Aufbegehren. Alles in ihm sträubte sich gegen die Wahrheit. Alles in ihm gab den Widerstand auf.
    Und so legte er sich wieder flach auf den Boden und verharrte schluchzend in derselben Körperhaltung, in der er Augenblicke zuvor erwacht war.

N atürlich bemerkte er die Blicke der Passanten um ihn herum. Es war ihm bewusst, dass er unter ihnen auffallen musste. Mit seinem zerrissenen Shirt, den Blutspuren auf seinem Arm, eine Hand gegen die Schulter gepresst, um den Schmerz aushalten zu können. Doch ihre Blicke waren ihm egal.
    Auf seine eigenen Blicke hatten sie ja auch noch nie reagiert. Dann, wenn er sie in der Stadt beobachtete und sie alle um ihr einfaches Leben beneidete. Wenn er sah, wie sie zur Schule und zur Arbeit gingen oder sich am Abend trafen, um den Tag ausklingen zu lassen. Wie sie vor Schaufenstern standen und sich all die Dinge ansahen, die Rouven sich nie würde leisten können. Wenn sie am Wochenende als Familien unterwegs waren. Dann spürte Rouven stets seine eigene trostlose Lage bis ins Knochenmark hinein. Wie eine heiße Klinge bohrte sich dieses Gefühl bis tief in seine Eingeweide hinein. Und er hätte, ohne zu zögern, mit beinahe jedem anderen sein Leben getauscht.
    Das war sein Spiel: Oft beobachtete er die Menschen auf der Straße und fragte sich, mit wem von ihnen er sein Leben am liebsten tauschen würde.
    Jetzt.
    Spontan.
    Und widerstrebend fiel ihm immer wieder auf, dass der einzige Mensch, den er nicht um sein Leben beneidete, er selbst war.
    Nun verließ er die Hauptstraße und suchte sich durch die engeren Gassen seinen Weg. Er wollte nicht weiter auffallen. Er wollte vermeiden, dass man ihm Fragen stellte. Er hätte keine Antwortengehabt. Bloß Fragmente. Striche zu einer Skizze, die kein Muster bildete. Die keinen Sinn ergab. Und die doch sein Leben darstellte.
    Das Laub unter seinen Füßen raschelte. Er hatte Stunden gebraucht, bis er endlich hierher gefunden hatte, hierher in den Stadtpark, wo um diese Zeit stets wenig los war. Die Wohnung, die er am Morgen panisch verlassen hatte, befand sich in einem Stadtteil, in dem er noch nie zuvor gewesen war. Zu dem ihn auch bisher noch nie etwas gezogen hatte.
    Wie war er nur dorthin gelangt?, fragte sich Rouven erneut. Und sofort drängte sich ihm die weit wichtigere Frage auf: Warum?
    Es tat gut, die pulsierende Stadt hinter sich zu lassen. Dieses Leben, mit dem er so wenig zu tun hatte. Da war es schon besser, sich zwischen den Bäumen zu bewegen. Die Natur auszukosten. Er fühlte sich wie ein Wolf. Naturverbunden. Ungezähmt. Frei.
    Und vieles von der Anspannung der letzten Stunden fiel von ihm ab.
    Als er endlich die Eingangstür aufstieß, hatte er sich beinahe vollständig beruhigt.
    »Bernie?«, erklang es aus dem Inneren. »Bist du wieder da?«
    Rouven schloss die Tür. »Ja, Großmutter. Ich bin wieder zu Hause.«
    Es störte ihn nicht, dass sie ihn mit falschem Namen begrüßte. Es störte ihn auch nicht, dass er sie belog. Alles das war realer und ehrlicher und hatte mehr mit ihm zu tun als die Welt, aus der er gerade kam.
    »Wasch dir die Finger, Bernie, und komm zum Essen«, erklang die Stimme erneut.
    »Gleich«, war Rouvens Antwort, bevor er sich auf das Bett fallen ließ und endlich in einen tiefen Schlaf fiel. Wie ein Freund hieß der Schlummer ihn willkommen. Und wie ein Arzt nahm er Rouven alle Sorgen und Ängste.
    Für einige Zeit.
    Für ein paar kurze Stunden.
    »Arthur?«
    Rouven öffnete die Augen. Es fiel ihm schwer, aus dem befreienden Schlaf in die Realität zu finden.
    Seine Realität.
    »Arthur!«
    Er öffnete die Augen. »Hallo, Großmutter.«
    »Also ehrlich«, sagte sie. »Da liegst du noch immer im Bett, und draußen scheint die Sonne. Du solltest in den Park gehen. Wie alle Jungen in deinem Alter.«
    Rouven rang sich ein Nicken ab. »Später vielleicht.«
    Sie hielt ihm eine Zeitung vor das Gesicht. »Die hast du wohl gestern mitgebracht. Ich hab die Rätselseite nicht angerührt«, lachte sie ihn an. Und dieses offene Lachen ließ Rouven aufatmen.
    »Danke«, sagte er und griff nach der Zeitung. Nicht ohne dabei ihre Hand zu nehmen und ihre Fingerspitzen zu küssen, die nach Kartoffeln rochen. »Was wäre ich nur ohne dich?«
    »Was ist das
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