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Sichelmond

Sichelmond

Titel: Sichelmond
Autoren: Stefan Gemmel
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sich eines davon und nahm zudem nun doch einen der Deko-Steine. Das Kissen presste er fest gegen die Scheibe der Terrassentür, dann stieß er mit aller Wucht den Stein dagegen. Es klirrte, aber nur sehr leise. In der Nachbarschaft schlug ein Hund an. Rouven beeilte sich, durch die zerbrochene Scheibe ins Innere zu treten. Zum ersten Mal in seinem Leben fühlte er sich nun tatsächlich wie ein Einbrecher.
    In der Ferne bellte der Hund noch immer. Rouven ließ nun alle Vorsicht außer Acht. Sollte die Polizei kommen, würde er die Sirenen hören und konnte immer noch fliehen. Und sollte einer der Nachbarn auftauchen   – vielleicht konnte Rouven mit ihm sprechen.
    Da er keine Taschenlampe besaß, die er hätte mitbringen können, betätigte Rouven einen der vielen Lichtschalter neben der Terrassentür, und sogleich wurde das Zimmer von hellem Licht durchflutet. Rouven erkannte den riesigen Raum sofort. Es war das Wohnzimmer, in dem er erwacht war. Noch immer bot es das Bild der Verwüstung. Noch immer durchstieß die Sessellehne den flachen Bildschirm des Fernsehers. Rouven schaute schnell zur Tür. Auch das eingebrannte » U «, mit dem Sichelmond und der Vogelkralle darüber, prangte noch auf der Tür. Alles befand sich im selben Zustand, wie Rouven es aus seiner Erinnerung kannte.
    Es war eigenartig, hier zu stehen. Dieser Raum war Rouven so fremd. Und dennoch war sein Leben direkt und unmittelbar mit dieser Wohnung verbunden. Die Frage war nur, wie und warum.
    Er trat aus den Scherben der zerbrochenen Terrassenscheibe und ging auf die Zimmertür zu. Mit den Fingern strich er über das » U «. Dann blickte er sich zu der Stelle um, an der er vor einigen Nächten erwacht war. Dort war die einzige kleine Blutlache, die er bisher sehen konnte. Seine Blutlache, die von der Verletzung am Arm herrührte.
    Mit einer Hand berührte er die Wunde. Es war ein Schnitt gewesen, wie von einer Messerklinge verursacht. Doch Rouven konnte in diesem Raum kein Messer entdecken. Nicht mal einen Dolch oder ein Schwert, das als Dekoration an der Wand gehangen hätte.
    Neben der Zimmertür entdeckte er eine Stelle an der Wand, die angebrannt zu sein schien. Rouven ging darauf zu, kniete sich auf den Boden und strich mit einem Finger darüber. Tatsächlich: In Knöchelhöhe war die Wand versengt worden. Rouven konnte eindeutig die Brandspuren erkennen. Doch ob diese verkohlte Stelle irgendetwas mit dem zu tun haben könnte, das mit ihm geschehen war, konnte er nicht einschätzen.
    In all dem Chaos dieses Zimmers fand Rouven überhaupt nichts, was auch nur eine seiner Fragen beantwortet oder ihm auf eine andere Weise weitergeholfen hätte.
    Also beschloss er, sich den Rest des Hauses anzusehen. Irgendwo musste es doch einen Hinweis geben.
    Er öffnete die Tür und trat in den Hausflur. Es war beinahe wie ein Schritt in ein völlig anderes Haus. Die Sauberkeit und Ordnung, die hier herrschte, stach völlig ab von der Unordnung im Wohnzimmer. Hier hatte es offensichtlich keine Auseinandersetzungen gegeben. Soweit Rouven das in einem fremden Haus beurteilen konnte, befand sich alles an seinem Platz: Vasen, Schränke, Spiegel. Jacken hingen an der Garderobe. Sogar der Autoschlüssel lag griffbereit in einer Schale auf der Kommode. Gerade so, als warte er darauf, in den nächsten Sekunden von den Besitzern in die Hand genommen zu werden.
    Alles wirkte recht prunkvoll. So, wie sich Rouven das Leben von Bankern vorgestellt hätte, wenn er einmal darüber nachgedacht hätte. Marmorböden, goldene Treppengeländer, ein beeindruckender Läufer auf dem Boden.
    In der Küche bot sich Rouven ein ähnliches Bild: eine teure Einrichtung, viele Gerätschaften, zum Teil in die Schränke eingebaut, doch nichts, wirklich nichts, das auf ein Verbrechen hingedeutet hätte. Nichts von alledem hier ließ erahnen, was mit dem Ehepaar geschehen sein konnte.
    Rouven schritt die Treppe hinauf ins Schlafzimmer. Die Betten waren frisch gemacht. Die Vorhänge waren zugezogen. An der Wand hingen mehrere gerahmte Fotos. Rouven ging zu einem Hochzeitsfoto und betrachtete die Gesichter darauf ganz genau. Sicherlich handelte es sich um das Paar, das hier lebte. Sie wirkten sympathisch. Offen. Aufgeschlossen. Zwei Menschen, mit denen Rouven wieder einmal sofort sein Leben getauscht hätte.
    Auf dem Foto schätzte er sie auf knapp über dreißig Jahre. Doch nichts, wirklich nichts an den beiden rief in Rouven eine Erinnerung herauf. Er starrte auf zwei völlig wildfremde
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