Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Sichelmond

Sichelmond

Titel: Sichelmond
Autoren: Stefan Gemmel
Vom Netzwerk:
schreckte auf. Sie ärgerte sich, dass sie so unbedacht gewesen war, mit der Flamme in der Hand einzuschlafen. Sie hätte die ganze Kapelle in Brand stecken können. Doch sie erinnerte sich an die übermenschliche Erschöpfung, die sie übermannt hatte, als sie zu der Kapelle gekommen war. Der Schlaf hatte so schnell Besitz von ihr ergriffen, dass ihr nicht einmal Zeit geblieben war, die Kerze auszupusten.
    Jetzt sah sich Tabitha in der beinahe tiefdunklen Kapelle um. Noch immer kein Lebenszeichen von Rouven. Sie hatte so sehr gehofft, ihn hier zu finden. In dieser Nacht. Gerade in dieser Nacht   … dieser Neumondnacht.
    Sie schüttelte sich. Irgendwie kam ihr diese Kapelle verwandelt vor. Ganz eigenartig fühlte sich Tabitha in diesem Raum. Gerade so, als sei die Atmosphäre darin vergiftet. Die Stimmung in diesen Wänden war bedrückend, nahezu hasserfüllt. Tabitha fühlte sich nicht mehr wohl. Sie fragte sich, ob all dies mit Rouven zu tun hatte. Sie wünschte sich an seine Seite. Jetzt. Hier. Sie dachte voller Sehnsucht und Sorge an ihn. Sie hätte ihm gern beigestanden. Ihn vielleicht beschützt   …
    Sorge. Das Wort krallte sich in ihr Gehirn. Ebenso wie der Begriff »schützen«. Es brauchte nur einen Moment, da festigte sich ein Gedanke in Tabitha. Vielleicht war dies die Möglichkeit, ihn zu rufen. Vielleicht sogar, ihn hierherzuholen, wo immer er gerade war. Sorge und gegenseitiger Schutz, darauf baute doch alles auf.
    Sie sprang auf die Füße und rannte so schnell aus der Kapelle, dass die Flamme ihrer Kerze erlosch.
    Hoffnung trieb sie an. So schnell sie konnte, suchte sie den Weg in die Stadt. Lieber wäre sie erst zu Nana gelaufen, um nach ihr zu sehen, doch der Zustand der Frau hatte sich gerade in den letzten beiden Tagen gebessert. Was immer sie in den Schockzustand versetzt hatte, als die beiden Polizisten bei ihnen im Wasserwerk gewesen waren, hatte sich gelegt und verflüchtigt. Auch die Blutungen ihrer Brust waren nach wenigen Augenblicken versiegt. Nana war inzwischen wieder so bei Kräften, dass sie ihren Tätigkeiten im Wasserwerk nachgehen konnte.
    Die Erde bebte. Das hatte sie schon einige Tage nicht mehr getan. Tabitha vermutete, dass Rouven wieder auf Jachael gestoßen war.
    Ihr Weg führte Tabitha in die Stadtmitte, in das Zentralkrankenhaus der Stadt. Zielstrebig rannte sie durch die Eingangstür und die langen Flure entlang. Sie war den Weg in den letzten Tagen bereits so oft gelaufen, dass sie den Raum, den sie erreichen wollte, selbst mit verbundenen Augen sofort gefunden hätte.
    Sie stieß die Tür auf und traf auf das gewohnte Bild: In dem übergroßen Zimmer, das man bisher als Operationssaal genutzt hatte, das aber jetzt wegen seiner Größe zu einem Krankenzimmer umfunktioniert worden war, standen fünfzehn Betten. Man hatte alle Betroffenen hierhergebracht und eine Quarantäne über den Raum verhängt. Noch immer lagen alle Menschen, die man in dem Stollen unter der Burgruine gefunden hatte, in einem geheimnisvollen Schlaf, dessen Ursache die Ärzte noch erforschten. Aus Angst vor einer Ansteckung dieser möglichen unbekannten Krankheit hatte man sie hierhergebracht, in den umfunktionierten Operationssaal. Mit dieser Methode hatte man alle Betroffenen gleichzeitig im Blick.
    Tabitha kannte von den Leuten, die hier lagen, kaum jemanden persönlich. Eigentlich war ihr nur der Ladenbesitzer bekannt, den sie einmal entdeckt hatte, als sie mit Rouven die Tafel in der Stadt besucht hatte. Er lag direkt an der Zimmertür neben einem kleinerenMann mit Ziegenbärtchen, dessen Namensschild ihn als Professor auswies. Die alte Frau in dem Bett an dessen Seite war Tabitha völlig unbekannt. Hinter ihrem Bett hing eine gelbe Stofftasche, wie man sie für Einkäufe in die Stadt mitnahm.
    Die meisten Menschen in den anderen zwölf Betten waren Tabitha zwar ebenfalls fremd, doch jedes Mal, wenn sie sich in dem Zimmer umschaute, durchströmte sie ein wahres Glücksgefühl. Sie vermutete, dass diese Menschen sich nur ganz selten so dicht beieinander befunden hatten. Sie war sicher, dass sie sich bisher kaum im selben Raum, vielleicht nicht einmal in derselben Straße aufgehalten hatten. Und nun lagen sie Seite an Seite in diesem Krankenhaus. Ohne dass sie es wussten. Betäubt in einem rätselhaften Schlaf, in dem einige von ihnen schon seit Monaten gefangen waren.
    Tabitha ging, wie bei jedem ihrer Besuche, zu den beiden Betten, die in der Raummitte nebeneinander an der linken Seite
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher