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Sichelmond

Sichelmond

Titel: Sichelmond
Autoren: Stefan Gemmel
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meisten von ihnen waren vor sieben Jahren Zeugen gewesen, als Jachael in dieser Stiergestalt einige Seelenschützer getötet und Tabitha und Nana das Herz aus der Brust gerissen hatte. Diese Bilder hatten sie jetzt vor Augen. Jetzt, wo sie dieser Bestie erneut gegenüberstanden. Die blanke Furcht war ihnen ins Gesicht geschrieben. Und dennoch blieben sie eisern vor der Kapelle stehen. Die Menschenkette wurde nicht unterbrochen. Unbeirrbar hielten sie sich an den Händen.
    Jachael gewann allmählich wieder seine Fassung. Die Flammen an seinen Hufen schlugen höher als zuvor.
    »Nun denn«, brüllte er hervor. »Wenn ihr den offenen Kampf wollt, dann sollt ihr ihn haben. Ich habe schon einmal über euch gesiegt. Und ich werde es wieder tun.«
    Er scharrte mit einem Huf und verengte seine Augen zu dünnen Schlitzen. Schon überlegte er, an welcher Stelle der Menschenkette er beginnen sollte. Er grübelte, welchen Seelenschützer er zuerst mit seinen gewaltigen Hörnern aufspießen sollte.
    Doch Rouven kam ihm zuvor. Sanft legte er noch Tabithas Kopf auf die Erde, dann stürmte er zu seinen Verbündeten, stellte sich in die Mitte der Kette und breitete seine Arme aus. Die beiden mittlerenSeelenschützer ergriffen seine Hände und nahmen ihn in ihren Verbund auf. Es waren die Eltern von Tabitha.
    Rouven hielt seinen Blick auf Jachael gerichtet. Er konzentrierte sich auf seine Aufgabe, auf sein Amt und spürte auch schon, wie die Veränderungen in ihm vorgingen. Es brauchte nur die Dauer eines Atemzuges, da stand er als riesige Krähe inmitten seiner Verbündeten. Als Wächter der Seelen, in Gestalt der Krähe, in der Rouven seine gewaltigsten Kräfte entwickeln konnte, wie er seit dieser Nacht wieder wusste.
    Jachael schnaubte. Er brüllte in die Nacht. Er scharrte weiter mit den Hufen, doch er griff nicht an.
    Rouven ahnte, dass er gegen diese Übermacht nicht mehr ankam. Er verstand, dass Jachael gegen die Kraft, die von der Menschenkette aller Seelenschützer ausging, nicht mehr ankam.
    Rouven trat einen Schritt vor, und seine Seelenwächter taten es ihm gleich. Obwohl Rouven spürte, wie groß ihre Angst vor dem Stierwesen war, wagten sie es, sich mit Rouven diesem Ungeheuer zu stellen.
    Jachael schnaubte nur noch mehr. Er warf den Kopf wütend herum. Er trat mit den Hufen gegen die Wand der Kapelle, so sehr, dass diese in sich erzitterte. Putz und Steine bröckelten auf ihn herab.
    Und schließlich wich Jachael einen Schritt zurück. Rouvens Ahnungen bestätigten sich. Gegen die Stärke und Entschlossenheit dieser Menschenkette konnte er sich nicht wehren.
    Weiter und weiter gingen die Seelenschützer, angeführt von Rouven, auf die Kapelle zu, bis Jachael sich ins Innere zurückzog und Rouven die Tür zur Kapelle schloss.
    Er taumelte. Er stemmte beide Flügel gegen das Holz der Tür und lehnte erschöpft seinen schweren Krähenkopf dazwischen.
    Die Seelenschützer hinter ihm begannen zu jubeln, doch Rouven wusste, dass sie den Kampf gegen Jachael keinesfalls gewonnen hatten. Sie hatten einen Sieg errungen, doch sie waren nicht am Ziel. Es war ihnen nur geglückt, Jachael in diesem Moment zurückzuhalten, aber er würde einen Weg finden, sich an ihnen zu rächen. Vielleichtsogar noch in dieser Nacht würde es ihm möglich sein, anzugreifen. Ein erneutes Blutbad anzurichten und schließlich Rouven zu töten und die Halle der Seelen zu stürmen.
    Rouven hörte ihn in der Kapelle toben. Schreien. Donnern. Immer wieder brüllte er Rouvens Namen. In einem Hass und einer Intensität, die erahnen ließ, was Jachael seinem Widersacher antun würde.
    Rouven war bewusst, dass der Stier keine Ruhe geben würde. Wenn es Jachael nicht in dieser Nacht gelingen sollte, seine Pläne erneut anzugehen, dann bald. In der Zukunft. Jachael würde in alle Ewigkeit weitermachen. Zu groß war sein Hunger, die Halle der Seelen zu erobern.
    Rouven lauschte den Geräuschen dieser Nacht. Der wütenden Raserei Jachaels im Inneren der Kapelle und dem erleichterten Freudentaumel der Seelenschützer.
    Er blickte zu Tabitha. Sie hatte sich hinsetzen können. Die Blutung war versiegt. Mit großen Augen starrte sie auf Rouven. Sie sah ihn zum ersten Mal in seiner Krähengestalt, und Rouven konnte ihrem Blick nicht entnehmen, was gerade in ihr vorging. Dafür spürte er tief in seinem Inneren noch einmal die tiefen Gefühle, die ihn mit Tabitha verbanden. Gefühle in einer Stärke und Dimension, wie er sie bisher nur für die Seelen in seiner Halle
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