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Der Hund des Propheten: Roman (German Edition)

Der Hund des Propheten: Roman (German Edition)

Titel: Der Hund des Propheten: Roman (German Edition)
Autoren: Ulrich Ritzel
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Samstag, 20. Oktober 2001
    Ein Strom von Menschen fließt durch die Eingangshalle der Universitätsklinik, Besucher mit Blumensträußen in der Hand, Patienten im Bademantel auf dem Weg zur Cafeteria, Frauen mit Kindern, alte Frauen, dunkel gekleidete Frauen, Frauen mit Kopftüchern und der ganzen türkischen Großfamilie im Gefolge. Ein Pulk von Männern, rotgesichtig, schwitzend, unförmige schwarze Koffer in den Händen, strebt dem begrünten Innenhof zu. Ein grauhaariger Mann bahnt sich den Weg durch den Pulk, bis er zu dem Empfangsschalter kommt, hinter dem ein verdrossener Pförtner über dem Wochenend-Rätsel des »Tagblatts« brütet.
    »COLTAN«, sagt der Mann, nachdem er ihm eine Weile zugesehen hat. »Das Erz mit den sechs Buchstaben, ohne das Ihr Handy nicht funktioniert, heißt Coltan.«
    Der Pförtner blickt hoch.
    »Bei der Gelegenheit«, fährt der Mann fort, »könnten Sie mir sagen, wo ich Herrn Seiffert finde, Jonas Seiffert.« Er buchstabiert den Nachnamen.
    »Zimmer 317, dritter Stock«, sagt der Pförtner, nachdem er den Namen in seinem Computer gefunden hat. »Wie, haben Sie gesagt, soll das Zeugs heißen?«
    »Coltan«, wiederholt Berndorf. Seit er pensioniert ist, hat er morgens sogar Zeit für das Kreuzworträtsel.
    »Mit C?«
    Berndorf nickt.
    »Das kann hinkommen«, antwortet der Pförtner, und Berndorf geht zur Treppe. Wenn es nicht zu viele Stockwerke sind, verschmäht er Aufzüge. Während er das Treppenhaus hinaufsteigt, sieht er durch die gläserne Außenfront, wie die rotgesichtigen Männer auf dem Innenhof Aufstellung nehmen. Die Oktobersonne lässt das Messing der Musikinstrumente aufblitzen, die die Männer aus ihren Koffern auspacken.
    Vom Treppenaufgang im dritten Stock gehen mehrere Korridore ab, schließlich findet er den richtigen. Die Tür zu Nummer 317 ist angelehnt, er klopft behutsam, mehr um anzuzeigen, dass ein Besucher eintreten will, dann schiebt er die Tür auf und tritt ein.
    Das Zimmer mit den beiden Betten liegt im Halbdunkel, wegen der schon tief stehenden Herbstsonne sind die Jalousien heruntergelassen. Auf den ersten Blick weiß Berndorf nicht, ob er nicht doch eine falsche Zimmernummer bekommen hat. Im Bett an der Seite zur Tür liegt ein Patient, dessen Alter er nicht schätzen kann, das Gesicht ist spitznasig und seltsam aufgeschwemmt in einem. Eine Frau sitzt neben ihm, die blonden Haare straff nach hinten gebunden, sie erwidert seinen angedeuteten Gruß mit einem kurzen Nicken.
    Zögernd geht Berndorf auf das zweite Bett zu, dann sieht er, dass sich dort eine knochige Hand hebt, begrüßend oder einladend. Auf dem hochgestellten Kissen liegt ein kahler Kopf mit gelblich verfärbtem Gesicht, der Hals wie angebunden an einen Infusionsständer, zu dem mehrere Schläuche führen. Wenigstens ist der Händedruck noch so – oder fast so –, wie Berndorf ihn von Jonas Seiffert kennt.
    »Schön, Sie zu sehen«, sagt Seiffert, und Berndorf weiß nicht, was er antworten soll, denn es ist bei Gott nicht schön, den Propheten Jonas so zu sehen.
    Seiffert enthebt ihn einer Antwort, er zeigt auf einen Stuhl, den Berndorf näher ans Bett heranziehen kann.
    Als er schließlich Platz genommen hat, rafft Berndorf sich auf und fragt, was die Ärzte meinen. Eine täppische Frage, aber er kann den Propheten mit dem gelben Gesicht und dem Hals, der an drei Infusionsschläuchen hängt, nicht fragen, wie es ihm denn so geht. Ums Verrecken kann er das nicht.
    »Alles hat seine Zeit«, antwortet Jonas Seiffert. »Ich hab meine gehabt. Die Ärzte sagen, ich hätte ein Rezidiv.« Er hebt die Hand an und lässt sie wieder auf die Bettdecke sinken. »Aber erzählen Sie mir doch von sich… Ich dachte, Sie gehen nach Berlin?«
    Berlin, ach ja, denkt Berndorf, davon lässt sich einiges berichten, und beschreibt seine blauäugigen Versuche, für sich und Barbara ein Haus zu finden, in Dahlem oder wenigstens an einem der brandenburgischen Seen… Seiffert scheint zuzuhören, aber Berndorf drängt sich immer mehr der Verdacht auf, dass selbst das Zuhören zu viel von einer Kraft verbraucht, die schon fast gar nicht mehr da ist.
    »Jedenfalls habe ich meine Ulmer Wohnung zum Jahresende gekündigt«, beschließt Berndorf seinen Bericht, »der Blick aufs Münster wird mir fehlen, anderes nicht …«
    Schweigen – oder besser: Verlegenheit senkt sich über die beiden Männer. Was muss er an den Propheten hinreden, wer alles in Ulm ihm nicht fehlen wird? Auch am Bett nebenan wird nicht
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