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Sichelmond

Sichelmond

Titel: Sichelmond
Autoren: Stefan Gemmel
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Rouven«, stand dort geschrieben.
    Und Rouven sank auf seinen Stuhl am Tisch und wagte kaum mehr ein- oder auszuatmen.



A ls Rouven erwachte, wusste er sofort, dass es wieder geschehen war. Der Geschmack trockenen Blutes in seinem Mund und der stechende Schmerz in seinem Rücken ließen nur einen einzigen Rückschluss zu. Und dieses Wissen traf Rouven tief und ließ ihn augenblicklich verzweifeln: Die vergangene Nacht war eine Neumondnacht gewesen.
    Er weigerte sich, die Augen zu öffnen. Zu sehr fürchtete er sich vor dem Anblick umgestoßener Möbel und zerstörter Vorhänge. Er entschied, liegen zu bleiben. Mit geschlossenen Augen. Mit dem Geschmack im Mund und der beißenden Wunde in seinem Rücken. Dieses Mal würde er nicht flüchten. Er wollte hier liegen bleiben, bis die Polizei eintraf. Erst, wenn er sicher sein konnte, rote Turnschuhe zu erblicken, wenn er die Augen öffnete, würde er sich regen.
    Ja, er gab auf. Sollten sie mit ihm machen, was sie wollten. Für diesen Zustand, in dem er lebte, mit allen Ängsten und Ungewissheiten, lohnte es sich nicht mehr zu kämpfen.
    Er verspürte nicht einmal den Wunsch nachzusehen, wo er war. All das, was gerade geschah, gehörte für ihn schon der Vergangenheit an. Es würde jetzt ein neuer Abschnitt in seinem Leben beginnen. Einer, den er nicht bestimmen würde. Einer, in dem andere Menschen entscheiden würden, was mit ihm geschah.
    Seine Muskeln entspannten sich. Er wurde ganz ruhig. Zum ersten Mal seit langer Zeit war er ganz sicher, das Richtige zu tun. Der Kampf, die Flucht, die Ängste   – das würde nun ein Ende finden.
    Sein Herz schlug langsam und regelmäßig. Durch seine Entscheidung kehrte eine solche Ruhe in ihn hinein, dass er beinahe wieder einschlief. Hier, auf diesem Boden einer fremden Wohnung, wie Rouven wusste. Innerhalb einer Unordnung, für die er nicht verantwortlich war. Auch wenn man ihm diese Taten anlasten würde.
    Wie lange konnte es wohl dauern, bis die Polizei eintraf? Wann würden die beiden Polizisten ihn wohl   …
    Rouven horchte auf. Er hatte ein Geräusch vernommen. Ein Scharren.
    Er lächelte. Sie waren also bereits hier. Dieses Mal hatte er wohl länger in der Wohnung geschlafen als die Male zuvor. Sie waren hier. Gleich würden sie ihn packen. Handschellen anlegen. Abführen.
    Und gewiss würden sie sich wundern, dass er sich dieses Mal überhaupt nicht wehrte.
    Im Gegenteil: Er streckte sich und legte sich so, dass die Beamten ihn leichter ergreifen konnten. Er wollte ihnen ihre Arbeit vereinfachen.
    Doch dann erklang erneut ein Geräusch. Kurz. Eines, das nicht zu seinen Gedanken passen wollte. Beinahe wie ein unterdrückter Aufschrei. Wie das Kreischen eines Menschen, der sich die Hand vor den Mund hielt.
    Alle innere Ruhe fuhr augenblicklich aus Rouven heraus. Hier stimmte etwas nicht.
    Auch war er noch nicht gepackt worden. Warum sollten die Polizisten zögern? Warum ergriffen sie ihn nicht einfach?
    Widerwillig gab er seine Pläne auf und öffnete langsam die Augen, was sofort wieder neue unterdrückte Entsetzensschreie hinter ihm auslöste.
    In Rouven kam der Verdacht auf, dass sich die Besitzer dieser Wohnung noch im Raum befinden konnten. Dass sie nicht verschwunden waren, wie in den Fällen zuvor.
    Er hob den Kopf. Sofort schossen ihm Schmerzen durch das Gehirn wie hundert Messerstiche. Mit den Fingerspitzen fuhr sich Rouven an die Schläfe und ertastete eine Wunde. Getrocknetes Blut, das ihm von dort wohl über das Gesicht und in den Mund gelaufen war. Daher der Geschmack beim Erwachen.
    Er blickte sich um. Wie er erwartet hatte, befand er sich in einem völlig verwüsteten Raum. Die gesamte Einrichtung lag so wild durcheinander, dass Rouven nicht einmal hätte ahnen können, wie die Möbel zuvor in diesem Raum gestanden hatten.
    Er sah vorsichtig an sich herab. Es gab die üblichen Kampfspuren: zerrissenes Shirt, Flecken an den Armen. Sein Kopf dröhnte schon bei der kleinsten Bewegung. Rouven versuchte sich aufzurichten, als die unterdrückten Schreie ein weiteres Mal ertönten. Sie kamen aus der Ecke hinter Rouvens Rücken. Schnell drehte sich Rouven um, was erneut zu unerträglichen Schmerzen führte, dann schrie er selbst überrascht auf.
    Ein Mädchen saß zwischen umgeworfenen Möbeln zusammengekauert gegen die Wand gelehnt. Sie starrte ihn mit weit aufgerissenen Augen an, blankes Entsetzen und nackte Angst in ihrem Blick. An Händen und Füßen war sie gefesselt. Sie zitterte. Das Shirt und die
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