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Sichelmond

Sichelmond

Titel: Sichelmond
Autoren: Stefan Gemmel
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Strickjacke, die sie darüber trug, waren beide nass geschwitzt. Man hatte sie geknebelt, mit einem Teil ihrer Strumpfhose, die man ihr vom Leib gerissen hatte. Am linken Bein trug sie noch die Strumpfhose, am rechten hingen nur noch Fetzen herab. Der Knebel steckte ihr tief im Mund, sie biss mit den Zähnen darauf. Und als Rouven ihr ins Gesicht sah, bäumte sie sich in ihren Fesseln auf und stieß erneut einen vom Knebel unterdrückten Schrei aus.
    Rouven kniete sich vor das Mädchen und hielt die Hände beschwichtigend vor sich. »Ich tu dir nichts«, sagte er hastig.
    Doch aus dem Blick des Mädchens konnte er ihre Zweifel herauslesen.
    »Ich tu dir bestimmt nichts«, wiederholte Rouven und robbte langsam ein Stück über den Boden auf sie zu. Sie bäumte sich erneut auf.
    »Sch   … keine Angst!« Rouven kroch noch ein Stück näher an sie heran. »Was immer dir passiert ist, ich habe nichts damit zu tun.«
    Wie verrückt das klingen musste, dachte er. Hier kniete er blutend in einer völlig verwüsteten Wohnung vor einem verängstigten, gefesselten Menschen und beteuerte, dass das alles nichts mit ihm zu tun haben sollte.
    Endlich hatte er das Mädchen erreicht. »Ich werde dich erst einmal von diesem Stoff befreien«, sagte er und griff vorsichtig nach dem Knebel. Langsam zog er das Stück Strumpfhose aus ihrem Mund und rechnete damit, dass das Mädchen laut losschreien und ihn beschimpfen würde. Doch sie sagte keinen Ton. Noch immer starrte sie ihn an   – mit ihrem ängstlichen Blick.
    Rouven rückte ein Stück von ihr ab. Und um die Stille zu durchbrechen, wiederholte er seine Worte: »Was hier passiert ist, hat nichts mit mir zu tun.«
    Sie starrte ihn weiter verängstigt an.
    »Ich weiß, das ist kaum zu glauben. Doch ich habe wirklich keine Ahnung, wie ich hierhergekommen bin. Ich weiß nicht einmal, was hier geschehen ist. Oder warum   …«
    Das Mädchen zeigte keinerlei Reaktion.
    Rouven rückte noch ein Stück von ihr ab. Er hätte ihr gern die Angst genommen. »Verstehst du mich überhaupt?«
    Sie schaute nur. Sie sah ihn mit einem Blick an, den Rouven nicht einzuschätzen wusste.
    Rouven deutete auf die Verwüstungen in der Wohnung. »Weißt du, was hier geschehen ist? Hast du etwas mitbekommen von alledem?«
    Sie schwieg. Rouven tat sie leid. Dieses Mädchen wirkte zerstörter als die ganze Wohnung um die beiden herum. Er schätzte sie auf fünfzehn oder sechzehn Jahre. Ihre glatten blonden Haare waren einmal zu einem Zopf geknotet worden, doch nun hingen unzählige Strähnen wirr über ihr Gesicht. Ihre Augen waren unterlaufen, die Haut rot vor Anstrengung. Rouven vermutete, dass sie schon seit Stunden voller Angst an diese Wand gelehnt gesessen und sich gegen die Fesseln gewehrt haben musste. Immer mit Blick auf ihn, wie er vor ihr gelegen hatte. In Angst, er könnte erwachen.
    Ihre Füße waren mit einem Seil verknotet, die Hände hatte man ihr hinter dem Rücken aneinandergebunden.
    Rouven seufzte. »Kann ich dir helfen? Kann ich was für dich   …«
    Endlich bewegten sich wenigstens ihre Augen. Sie blickte auf die Fesseln.
    »Oh, entschuldige!« Rouven kroch wieder nahe an sie heran. Zuerst versuchte er, die Fesseln an den Fußgelenken zu lösen. Der Knoten war so festgezogen, dass Rouven einige Minuten brauchte, bis er das Seil in hohem Bogen von ihr wegwerfen konnte. Die Haut an den Gelenken war rot und geschwollen. Das Mädchen hatte gewiss Schmerzen.
    Nun drehte sie sich etwas zur Seite, sodass Rouven die Handfesseln besser ergreifen konnte.
    Er zögerte. »Wirst du auch nicht ausflippen, wenn du befreit bist?«
    Sie nickte.
    »Und wirst du davonlaufen?«
    Für einen Moment dachte sie nach, dann schüttelte sie kaum sichtbar den Kopf.
    »Okay«, entgegnete Rouven. »Ich glaube dir.«
    Wieder kostete es ihn einige Mühe, sie von den engen Fesseln zu befreien, doch schließlich konnte sie ihre Arme und Hände wieder bewegen. Sie wich vor ihm zurück und robbte auf allen vieren zur gegenüberliegenden Wand. Direkt vor eine schwarz verkohlte Stelle an der Wand setzte sie sich hin. Mit ihrem Rücken deckte sie die Brandspuren ab, die sich in Knöchelhöhe von der weißen Wand abhoben.
    Dort verharrte sie, rieb sich die Gelenke und starrte Rouven erneut schweigend an.
    Er blickte zurück. »Geht es dir besser?«
    Wieder erhielt er keine Antwort. Auch er lehnte sich nun gegen die Wand. Beim Drehen seines Körpers wurde seine Aufmerksamkeit abgelenkt. Sein Blick schweifte zur Eingangstür
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