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Sichelmond

Sichelmond

Titel: Sichelmond
Autoren: Stefan Gemmel
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des Raumes. Zu dem »V«, das unter einer Mondsichel und einer Vogelkralle in das Holz hineingebrannt worden war.
    Das Mädchen bemerkte Rouvens Blick. Auch sie schaute zur Tür und dann rasch auf ihn zurück. Rouven spürte, dass sie eine Verbindung zwischen ihm und der Schrift herstellte, denn mit einem Mal war wieder diese Angst in ihren Augen zu sehen.
    »Weißt du etwas darüber?«
    Ihr Blick ging noch einmal zur Tür und wieder zu Rouven zurück. Dann schaute sie auf den Ärmel ihrer Strickjacke, der bis zu den Händen heruntergezogen war, und schließlich wanderte der Blick erneut zu Rouven.
    Das war’s. Sonst zeigte sie keinerlei Reaktion. Doch Rouven spürte, dass sie etwas wusste. Auch er blickte auf den Ärmel ihrer Strickjacke. Doch außer einer dünnen, kaum sichtbaren Blutspur entdeckte er nichts daran. Und so maß er diesem Umstand erst einmal wenig Gewicht bei.
    Er musste sie zum Sprechen bringen. Darauf kam es an. Er musste ihr seine Fragen stellen. Dass sie ihn verstand, das hatte sie vorhin, beim Lösen der Fesseln, eindeutig gezeigt. Sie hatte auf seine Fragen mit klaren Kopfbewegungen reagiert. Und dass sie sprechen konnte, daran zweifelte Rouven auch nicht. Sie stand unter Schock, vermutete er. Sie hatte gewiss einiges Schreckliche mit ansehen müssen, was sie nicht hatte verarbeiten können, solange sie gefesselt vor seinem schlafenden Körper gesessen hatte.
    Doch Rouven war ungeduldig. Endlich saß er einem möglichen Zeugen gegenüber. Einem Menschen, der ihm vielleicht sagen konnte, was das alles zu bedeuten hatte. Was in den Neumondnächten geschah und wie er in die fremden Wohnungen kam.
    Doch seine Zeugin schwieg.
    Und starrte.
    Enttäuscht ließ Rouven die Schultern hängen. Gedankenverloren starrte er zurück.
    So verharrten sie einige Zeit.
    Schweigend.
    Eine merkwürdige Situation entstand.
    Beide hatten Unmengen an Fragen an den anderen. Und doch sprachen sie kein Wort, sondern sahen sich nur an.
    Es war wie ein Lauern aufeinander. Wie ein Warten, dass der andere einen Anfang machte. Ein Harren darauf, dass sich einer von ihnen endlich öffnete. Dass die richtige Frage gestellt wurde. Die richtigen Worte gefunden wurden.
    Doch sie schwiegen.
    Bis die Stille unterbrochen wurde. Erst war es nur aus der Ferne zu hören, doch schnell wuchs das Geräusch an. Die Sirenen der Polizeiwagen tönten schrill durch die Straßen und zu den beiden herein.
    Sofort schoss das Adrenalin durch Rouvens Adern. Die Ruhe war vorbei. Und schon bedauerte er, dass dieser magische Moment ein Ende hatte. Jetzt erst fiel ihm auf, dass er die Zweisamkeit mit dem Mädchen bei aller Anspannung auch genossen hatte.
    Und noch etwas fiel ihm auf. In ihm erwachte ein Gefühl, das er schon lange nicht mehr verspürt hatte: Hoffnung.
    Er sah ihr zu, wie sie rasch auf ihre Füße sprang, zum Fenster eilte und sich hinauslehnte, um nach den Polizeiwagen zu sehen. Für Rouven war das nicht nötig. Er konnte an der Lautstärke der Sirenen abschätzen, dass ihm nur noch wenige Minuten zur Flucht blieben.
    Denn mit der Hoffnung, die in ihm keimte, erwachte auch wieder sein Kampfgeist. Entgegen seines Entschlusses, als er erwacht war, beschloss er nun, dass er sich nicht ergeben würde. Im Gegenteil, dieses Mädchen, das am Fenster stand, war vielleicht seine Rettung. Sie konnte ihm vielleicht helfen. Gewiss hatte sie beobachtet, was in dieser Nacht geschehen war. Sie musste sich seinen Fragen stellen.
    Er erhob sich und hastete zu ihr ans Fenster. Mit grübelndem Gesichtsausdruck starrte sie weiter hinaus.
    »Kann ich dich wiedersehen?«, fragte Rouven leise, fast zärtlich.
    Sie drehte ihm das Gesicht zu, und Rouven sprach weiter: »Ich habe so viele Fragen an dich. Du bist die Einzige, die Ordnung in mein Leben bringen kann. Die Einzige, die mir vielleicht helfen kann.«
    Der Klang der Sirenen wurde lauter. Schon blieben Rouven nur noch Augenblicke, wenn er rennen wollte.
    »Ich werde dich finden«, sagte er. »Lass dir erst einmal helfen. Du hast bestimmt einiges zu verarbeiten. Doch irgendwann werde ich dich finden. Und vielleicht bist du dann bereit, meine Fragen zu beantworten.«
    Sie schaute ihn erst nachdenklich an, bevor ihr Blick zur Tür ging   – zu dem Sichelmond, der Kralle und dem ebenfalls eingebrannten » V «. Sie legte eine Hand auf ihren Unterarm, bevor sie Rouven erneut ansah.
    »Alles Gute«, sagte Rouven. Er strich ihr zum Abschied über die Schulter und wandte sich schon zum Gehen um, als etwas
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