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Sheylah und die Zwillingsschluessel

Sheylah und die Zwillingsschluessel

Titel: Sheylah und die Zwillingsschluessel
Autoren: Lolaca Manhisse
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EINE NEUE WELT
    Alles, woran sich Sheylah Wellington erinnern konnte, war, dass sie vor dem Fernseher gesessen und sich das Erbstück ihrer verstorbenen Mutter angeschaut hatte. Ein silberner, fingergroßer Schlüssel mit einem roten Rubin in der Mitte, den sie an einer Kette um den Hals trug. „Oh, nicht schon wieder ein Anfall“, stöhnte sie. Die Anfälle, wie Sheylah sie nannte, waren eigentlich Träume, die sie zu jeder Tages- oder Nachtzeit heimsuchten. Sie begannen kurz nach dem Tod ihrer Mutter und waren so realistisch, dass Sheylah meist das Bewusstsein verlor und sich danach ganz ausgelaugt fühlte. Ihr Therapeut, den sie seit dem Tod ihrer Mutter aufsuchte, war der Meinung, dies sei ihre Art, mit dem Verlust umzugehen. Dass ihre Mutter jedoch nie in einem ihrer Träume vorgekommen war, hatte sie ihm verschwiegen. Ebenso ihre Träume, die von fliehenden Prinzessinnen, blutigen Schlachten und sonderbaren Geschöpfen handelten. Nein, das hatte so gar nichts mit ihrer Mutter zu tun.
    Stellte sich bloß die Frage, weshalb die sonderbaren Träume dann kurz nach ihrem Tod begonnen hatten und warum ihre Mutter damals, als ihre Oma gestorben war, dieselben Träume heimsuchten. Sheylahs Mutter hatte oft von einer fremden Welt und unheimlichen Geschöpfen gesprochen und dass die Träume erst auftauchten, nachdem sie den Schlüssel erbte. Zu viele Zufälle für ihren Geschmack. Vielleicht wurde sie auch einfach nur verrückt. Aber sagte man nicht von Verrückten, dass sie es nur sind, wenn sie fest davon überzeugt waren, es nicht zu sein? Dann konnte sie ja gar nicht verrückt sein, denn sie glaubte es ja. Sheylah schauderte von dem frischen Luftzug, der sie umgab. Hatte sie vergessen, das Fenster zu schließen? Eigentlich müsste es nach abgestandener Pizza und Kaffee riechen, doch die Luft roch frisch und süß. Nein, sie war definitiv nicht in ihrer Wohnung! Etwas raschelte in ihrer Nähe. Sheylah öffnete die Augen und blickte zum strahlendblauen Himmel hinauf. Umständlich rappelte sie sich auf und bemerkte dabei, dass sie keine Schuhe trug. Nur die dunkelblaue Jeans und ein locker sitzendes Shirt. Gras kitzelte ihre nackten Fußsohlen. Sie befand sich auf einer kleinen Lichtung aus flachem Grün, die von hohen, dicken Bäumen umschlossen war. Sie standen so dicht, dass man kaum hindurchblicken konnte. Sheylah rieb sich erschöpft die Stirn. Sie fühlte sich ausgelaugt, bloß diesmal mehr als sonst. „Okay, nur mit der Ruhe“, murmelte sie.
    „Die Träume halten meist nicht länger als ein paar Minuten an, also bleibst du einfach hier stehen und wartest, bis du aufwachst.“ Nach einigen Minuten setzte sie sich und spielte mit dem giftgrünen Gras herum. Sie rupfte ein paar Halme ab und atmete den Duft ein, der an Zitronenlimonade erinnerte. Dann schloss sie die Augen, legte sich auf den Rücken und blickte wieder zum Himmel. Nach etwa zehn Minuten wurde sie zappelig und stand auf. Komisch, so lang hatte noch kein Traum angehalten und bisher war auch keiner so ereignislos gewesen. Offenbar war die Situation weitaus ernster, als sie anfangs dachte. Denn wenn das hier kein Traum war – und sie hoffte noch immer, dass es einer war – dann hatte sie wieder geschlafwandelt. Das war ihr bisher erst einmal passiert, vor ungefähr einem Jahr. Damals wachte sie mitten auf der Straße auf und musste feststellen, dass sie sich außerhalb von Berlin befand. „Keine Panik“, flüsterte sie. „Mach es einfach wie letztes Mal und ruf deine Freundin an.“ Sie suchte in den Taschen ihrer Jeans, doch sie konnte ihr Handy nicht finden. Natürlich gab es mitten im Wald auch keine Telefonzelle. Wenigstens hatte sie noch den Schlüssel um. Er baumelte um ihren Hals und schimmerte im roten Schein des Rubins, der das Licht der Sonne reflektierte. Jetzt fiel ihr auf, wie heiß es hier war, mitten im Wald. Sie sah sich noch einmal genauer um. Der Wald hatte etwas Gespenstisches an sich. Sie hörte weder Vögel zwitschern noch Bienen summen und das Rascheln von vorhin war auch verschwunden. Es kam ihr vor, als gehöre der Wald gar nicht hierher.
    Als sei er nur ein Trugbild. Wie zur Bestätigung verspürte sie plötzlich ein Brennen an ihren Fußsohlen. Das Gras unter ihr sah völlig normal aus, doch es fühlte sich an, als stehe sie im glühenden Wüstensand. Blindlings lief sie in den Wald hinein, fest entschlossen, so schnell wie möglich von hier zu verschwinden. Irgendwann musste dieser Wald ja enden und dann würde sie
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