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Shakespeare erzählt

Shakespeare erzählt

Titel: Shakespeare erzählt
Autoren: Michael Köhlmeier
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ihm?«
    Der Bote: »Er ist ein Verräter! Du weißt es, und du hast es immer gewußt. Er ist verhaftet worden, er ist degradiert worden, er ist eingesperrt worden, er wird hingerichtet werden. Er hat es mit den Aufständischen gehalten. Du, Macbeth, hast es als einziger gewußt, du, Macbeth, hast als einziger vor ihm gewarnt. Der König ist beschämt, daß er dir nicht geglaubt hat. Der König möchte, daß du von nun an diesen Titel trägst!«
    Banquo und Macbeth lassen nur für einen Moment den Boten aus den Augen, der eine sieht den anderen an, und der eine sieht in den Augen des anderen das Ziel, das ihm die Hexen gesteckt haben. Die erste Weissagung der Hexen hat sich bereits erfüllt! Und wie hat die dritte Hexe den Macbeth begrüßt? »Heil dir, du künftiger König von Schottland!«
    Kann Banquo an etwas anderes denken, als daß er kleiner und doch größer, unglücklicher und doch glücklicher als Macbeth ist, daß er selbst zwar nie König, aber Vater von Königen werden wird?
    »Man soll sich vor solchen Weissagungen hüten!« sagt er, als der Bote davon ist. »Manche solcher Sprüche wecken Ambitionen. Wenn du weißt, was ich meine …«
    Macbeth weiß, was Banquo meint. Aber warum sollte er Banquo antworten? Er ist nun Than von Cawdor. Er ist es. Er ist es geworden, ohne es gewollt zu haben. Und wenn alle anderer Meinung sind: Macbeth ist kein ehrgeiziger Mann. Ambition und Ehrgeiz sind Wasser und Brot für den Weg. Der Weg aber hat Macbeth nie interessiert. Nur das Ziel. Die beiden trennen sich.
     
    Lady Macbeth weiß bereits alles. Sie umarmt ihn, als er nach Hause kommt. Ihre Freude gilt dem Mann und dann erst der Ehre, die ihm zuteil wurde. Sie liebt ihren Mann. Und sie weiß, daß sie von ihm geliebt wird. Sie kennt ihren Mann, und sie weiß, was ihm fehlt. Ihr Herz ist für ihn geöffnet, nur für ihn. Er blickt in ihr Herz und sieht dort seine Mängel und sieht, daß die Mängel in diesem Herzen zu liebenswertem und begehrtem Überfluß werden.
    »Mein Mann«, sagt sie, »ist weich, und sein Herz ist voll Milch des Mitleids.« Zu wem spricht Lady Macbeth, wenn sie so spricht? Auch sie hat keine Freunde, niemanden, dem sie vertraut. Als sie so zu ihrem Gatten spricht, legt er seinen Kopf in ihren Schoß, und sie erzählt ihm, und in ihren Erzählungen ist er ein anderer. Er ist der Beste.
    Heute erzählt er. Von den Hexen erzählt er und von ihren Weissagungen. Und von den Ideen, die sie ihm in den Kopf gesetzt haben.
    »Wer auch immer diese Wesen waren«, sagt Lady Macbeth, »ob Hexen, ob Teufel, ob Abgesandte aus der Zukunft, sie wissen, was in dir steckt: der König von Schottland.«
    Die Lady weiß, es wird ihrem Mann an Ehrgeiz fehlen. Mögen ihn seine Soldaten für einen mutigen Krieger, mag ihn Banquo für einen genialen Strategen, mag ihn Duncan für einen treuen Vasallen halten, sie kennt ihren Mann: Er tut, was er tut, und er tut es ohne Ehrgeiz. »Ich«, sagt sie, »ich werde die Kraft sein, die dem Mann fehlt. Wir beide sind eins.«
    Aber Lady Macbeth kennt ihren Mann in Wahrheit nicht. Was er über Weg und Ziel sagt, das nimmt sie nicht ernst, daß das Ziel sich den Weg von allein sucht und so weiter. »Er soll den Weg gehen, ich werde ihm den Weg bereiten, ich werde den Weg in die Wildnis der Zukunft schlagen«, sagt sie.
    Lady Macbeth mißversteht ihren Mann im Grundsätzlichen. Sie unterschätzt die Kraft ihres Mannes, weil sie die Beschaffenheit dieser Kraft nicht kennt. Niemand kennt diese Kraft. Macbeth mag vielleicht nicht besonders intelligent sein – in diesem Punkt ist ihm seine Frau weit überlegen –, ganz bestimmt ist er nicht redegewandt, wie etwa Banquo. Aber: Macbeth verfügt über die Kraft der Einbildung wie kein Mensch in seiner Welt, vielleicht wie kein Mensch vor ihm und keiner nach ihm. Diese Kraft kann mehr als Berge versetzen. Sie vermag Dinge, die sich in der Zukunft ereignen, in die Gegenwart seines Bewußtseins zu rücken, so daß sie als bereits geschehen vor dem Geist des Macbeth erscheinen. Was sagte die letzte Hexe? »Heil dir, Macbeth, dir, künftigem König Heil!« Damit war das Ziel gesetzt. Für Macbeth aber, für seine Einbildungskraft bedeutet dies nicht: Er wird König von Schottland werden – nein, es bedeutet: Er ist es. Als ob der Weg zu diesem Ziel bereits hinter ihm läge. Die Zeit bis dorthin ist für Macbeth nur noch mit Warten ausgefüllt; mit Warten und Staunen darüber, was der Weg alles zu bieten hat. Und Macbeth sieht, der Weg wird
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