Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Sepia

Sepia

Titel: Sepia
Autoren: Helga Schuetz
Vom Netzwerk:
setzt sich so ein brauner Vogel auf seine Schulter. Schubert versucht, still zu sein, die Luft anzuhalten,die Wandlung geschieht in einem Augenblick, wo er kein bisschen glücksgewärtig ist, der Acker wird zur Landschaft, die Sorgen werden perfekt, er hat an so viel Natur eigentlich gar nichts auszusetzen, an kleinen braunen Vögeln. Jetzt fliegt der Schwarm. Jetzt macht Schubert auf dem Absatz eine einvernehmliche Pirouette.
    Der LPG-Traktor poltert mit dem nächsten leeren Hänger, von der Chaussee kommend, über die Zufahrtsspur zum Sammelplatz, auch dieser Hänger müsste heute noch beladen werden. Menschen sind genug auf dem Feld und Kartoffeln auch.
    Eli dreht sich nicht mehr um, sie lässt den Assistenten, die Tänzer, die Sänger, die Disputanten, die Gruppen- und Einzelmeinungen hinter sich. Sie hört ferne Stimmen, das Lachen. Hoppla, immer wenn der Kopf fällt im Lied von den fünfzig Kanonen. Hoppla.
    Auf der anderen Seite der Chaussee zieht sich ein Maisfeld, es reicht bis zum Horizont, im Frühjahr bestellt und nun vergessen, so sieht es aus, ein verlassenes Feld. Der Sämann ist fortgegangen, dienstfertige Natur hat die Angelegenheit übernommen, die Dürre, den Bruch, die Bräune, bis zum Himmelsstrich herbstliche Hinfälligkeit. Rotwild, Damwild, vielleicht auch Wildschweine haben einen Weg über den Straßenrain durch das hohe braune Kraut getreten. Einen Schleichweg oder einen Fluchtweg. Einen Weg zurück. Für Eli eine letzte Möglichkeit. Denk dir hinter dem Horizont einen Kiefernwald und dann einen Berg. Wenn du es mit Entschlossenheit willst, ist es der Wilder-Mann-Berg, die Vorstadtstraße, der Schrebergarten, in Himmelsferne ein goldener Engel über einer Kuppel aus Glas, die Silhouette der Stadt, ein Sprung über die Elbe. Die Mitte, das ist der Schornstein vom Kesselhaus. Steinkohle, ein kleiner herbeigekarrter Vorrat. Die Orangerie. Zitronenblüten. Wo du hergekommen bist, wo du hingehörst.
     
    Jede Woche schreibt Eli an den Großvater einen Brief. Sie schreibt, wie sie sich eingelebt hat, berichtet von Vorlesungen und Seminaren, wie man eine Analyse macht. Man nimmt den Film auseinander. Handlung, Dialoge usw. Eine Einstellung ist die kleinste Zelle. Dialog und Bild sind zu einer Einheit verschmolzen. Manchmal schlafe ich in der Vorführung Geschichte des deutschen Stummfilms ein. Obwohl ich nicht müde bin. Es ist, weil die kunstvollen Sachen so lang sind. Du kannst Dir nicht vorstellen wie, zwei Stunden oder mehr.
    Eli berichtet dem Großvater, dass die beiden Mädchen, mit denen sie sich das Zimmer teilt, Anke und Sandra heißen. Die beiden sind schon im vierten Studienjahr und damit kaum noch in ihren Betten, weil sie auswärts den praktischen Teil der Diplomarbeiten ableisten müssen. Unser Mädchenwohnheim heißt Tauber-Villa, weil der berühmte Sänger Richard Tauber, von dem du auf Platte das
Wolgalied
hast, vor dem Krieg für ein paar Jahre hier gewohnt hat. An den Steckdosen für Nachttischlampen und an den Perlenschnüren an der Deckenlampe, auch an der blauen Engelstapete sieht man, dass unsere Bude mal sein Schlafzimmer war.
    Lieber Großvater, hattest Du nicht früher eine Lederjacke. Ich glaube, ja. Kannst Du mal in der Bodenkammer suchen? Im Schrank unten, wo auch Emmas Rolltücher liegen? Ich glaube, die würde mir passen. Die Jacke darf ruhig reichlich sein und nicht mehr wie neu. Von Deinem Geld habe ich ein Buch gekauft. Die
Kriegsfibel
. Aus dem Verlag für Satire und Humor, Eulenspiegel. Einer auf dem Umschlagfoto mit den gefangenen Soldaten sieht wie Papa aus. Es sind Papas Augen und sein Kinn und der Mund. Es ist Winter. Bestimmt ist es Stalingrad. Er hat Lappen um den Kopf gebunden und schleppt immer noch einen Mantel. Vielleicht ist er doch durchgekommen und lebt? Der Dichter Bertolt Brecht hat zu den Fotos auf jeder Seite ein kleines Gedicht geschrieben. Man behält die Zeilenim Kopf:
Such nicht mehr, Frau: du wirst sie nicht mehr finden! Doch auch das Schicksal, Frau, beschuldige nicht! Die dunklen Mächte, Frau, die dich da schinden, sie haben Name, Anschrift und Gesicht
.
    Auf dem Foto neben dem Gedicht sieht man ausgebrannte Häuser und Mauerreste, wie damals in der Altenzeller Straße, wo unsere Wohnung war. Wir beide sind später nach dem Angriff noch einmal hingelaufen, quer durch die Trümmer. So ein Bild ist es. Kalte Steine. Wir wussten damals nicht, wonach wir suchen sollten, Du hast gesagt: Vielleicht finden wir irgendwas. Die goldene Brezel von
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher