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Sepia

Sepia

Titel: Sepia
Autoren: Helga Schuetz
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Kommission die Bestätigungen schreiben. An Siegfried Müller, Ludwig Zweig, Felix Wagner, Rafaela Reich. Betrifft: Einladung zum Studium. Seine Unterschrift Dr. Erwin Schubert. Weil er weder Termine in der Fachrichtung noch gute Ausreden hatte, wurde er gleich auch zur Leitung des Ernteeinsatzes verpflichtet. Er sollte die Kultur auf dem Dorf und die gestaffelte Anreise der Studienjahre organisieren.
     
    Ludwig Zweig hatte sich krankgemeldet. Felix Wagner musste einen Humorartikel schreiben, und Siegfried Müller sollte in diesen Tagen Vater werden.
     
    Rafaela Reich sitzt allein in Raum 37. Sie hat ihre Papiere im Sekretariat des Prorektors bei Frau Gieram abgegeben, den Koffer, wie angesagt, in der Fechthalle abgestellt. Zu Füßen der Rucksack, darin die blaue Latzhose und die blaue Jacke, die letzte Zuteilung auf Arbeitsbuch für Garten- und Feldarbeiter. Im Kopf schwarzweiße Gedanken. So sieht ein Anfang aus, und jetzt kann ich wahrscheinlich nicht mehr zurück.
    Weil die anderen Neuen nicht gekommen sind, wird alles ein bisschen anders. Keine Sonderfahrt mit Begleitung. Man erklärt ihr, am Platz der Einheit gebe es einen Linienbus nach Ketzin. Der Kartoffelacker sei gewiss nicht zu übersehen.
    Die älteren Jahrgänge, sämtliche Fachrichtungen, seien schon seit einer Woche in Aktion. Am Tage Ernte, am Abend Kultur.
     
    Das Wetter stimmt für die frühen Winterkartoffeln. Die Nächte sind kühl, die Mittage heiß, trocken, staubig. Die Kartoffelschleuder zieht eine kilometerlange Strecke, wirft in breiter Front die Furchen auf, unter der Staubfahne liegen frei undbuttergelb die Kartoffeln. Das dürre Kraut bleibt rechts, links neben der Maschine liegen. Stille. Die Erde atmet, als sei sie fertig wie einst, aber das täuscht. Jetzt werden alle Hände gebraucht.
    Die Studenten helfen bei der Einbringung der Hackfruchternte.
    Am Feldrand, wo die Taschen und Beutel der anderen liegen, hat Eli die blauen Sachen angezogen und einen leeren Korb genommen. Dort bleibt ihr Rucksack. Über den Acker verteilt, in gesellig bunten Haufen, lauter Studenten, alle im zweiten und dritten Studienjahr. Rufe und Meinungen fliegen hin und her. Manchmal fliegen Kartoffeln. Oft gibt es etwas zu lachen. Eli zieht näher. Da wird ein Lied vorgetragen oder ein Gedicht, in geschulter Art, halb gesprochen, halb gesungen. Rezitativ. Mackie und ich, wir lebten wie die Tauben. Eli hört heraus, dass es ein Text von Bertolt Brecht ist. Aus seiner
Dreigroschenoper
. Eli spitzt die Ohren. Kurt Weill. Paul Dessau. Hanns Eisler. Lauter Komponisten. Weiter im Text. Eli versteht Schiff und Kanonen und Hoppla, das Lied – der Song, sagen sie – stammt wohl gleichfalls aus der
Dreigroschenoper
. Das Stück wird im Berliner Ensemble probiert. Das ist es, was Eli gemeint hat. Der Grund Nummer eins und zwei, deshalb ist sie hier, weil sie ins Theater gehen will. Sie wird sich die Haare abschneiden lassen. Nicht nur die Studenten, auch einige Studentinnen haben einen Brecht-Schnitt. Brecht hatte eine Cäsar-Frisur. Cäsar- oder Brecht-Schnitt, jedenfalls will Eli so schlau aussehen wie die mit den dunklen, in die Stirn gekämmten Fransen, Eli hatte die Frisur schon an der rundlichen Kommissionsfrau gesehen. Damals noch aus der Distanz, eher kritisch. Jetzt ist sich Eli sicher. Sie hatte zu Hause auf Anweisung der Aufnahmekommission wochenlang Schillers Dramen gelesen. Nun würde sie gern etwas von Bert Brecht im Kopfe haben. Wenn man Bert Brecht nicht kennt, kann man hier auf dem Kartoffelacker niemandenverstehen. Wehe dem Land, das keine Helden hat. Wehe dem Land, das Helden nötig hat. Aber wie sehen neue Helden überhaupt aus? Oder Mütter. Wer ein Kind geboren hat, ist noch längst keine Mutter. Das Amt muss man sich, wie all und jedes, erst einmal verdienen. Am besten können das Frauen, die nichts haben und nichts sind. Die Besitzlosen erweisen sich meist als die besseren Mütter. Zum Beispiel Grusche im
Kaukasischen Kreidekreis
. Über solche Sachen streitet man auf dem Feld, und das ist immer auch gleich der Witz, man nennt Namen und Titel und mimt den Richter Azdak. Schwester, verhülle dein Haupt, Bruder, hole dein Messer, die Zeit ist ganz aus den Fugen.
    Eli bewundert die Debatten, die sprechenden Hände, Tanzschritte, ein Reigen, wie sie abheben von der Erde und den herumliegenden Kartoffeln, wie sie mit gespanntem Rücken frei über dem Acker schweben. Götterkinder oder glückliche Marionetten, die von unsichtbaren Haltefäden
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