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Sepia

Sepia

Titel: Sepia
Autoren: Helga Schuetz
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sich heimlich zur Schulung beworben. Er hatte sich bis jetzt keine Gedanken gemacht, wenn sie mal drei Tage unterwegs war. Entweder zu Fuß oder mit Fahrrad. Entweder in die Sächsische Schweiz oder Richtung Erzgebirge. In Dittersbach im früheren
Gasthaus Schöne Höhe
hatte der Lehrbetrieb ein Erholungsheim. Dort ist sie mal als beste Brigade eine ganze Woche gewesen. Zur Kirschenzeit haben die jungen Leute, fünf Mädchen, zwei Jungen, sieben Tage wie die Stare gelebt. Die frühere Wirtin aus dem Gasthaus, die noch dort wohnt, hatte aufgepasst und nach dem Rechten gesehen. Nie sind Klagen gekommen. Und nun. Ein Brief von einer Kommission, die von Metamorphose spricht.
     
    Eli war an einem Frühlingstag heimlich über Elsterwerda in den Ostsektor von Berlin gefahren. Sie hatte sich durchgefragt. Sie musste umsteigen, wechseln zwischen Bus und Bahn und West und Ost, dann durch viel Wald, der zum Westen gehört, in einer langen S-Bahn-Tour bis zur ersten Oststation, eine nach Wannsee, da musst du raus.
    Dort tagte die Kommission.
    Nun erzählen Sie uns mal, junge Dame, warum Sie hier sind?
    Erstens, hatte Eli gesagt, die schöne Gegend, die vielen königlichen Gärten, das Wasser und der Wald. Und zweitens ist es nicht weit nach Berlin, in den demokratischen Sektor, hatte sie höflich hinzugefügt, dort gibt es viele Möglichkeiten, ins Theater zu gehen. Es gibt Bibliotheken und Galerien. Man kann lesen, sitzt im Winter in der Stube, braucht keine Filzstiefel mehr und hat nie kalte Füße.
    Die fünf Kommissionsmitglieder hatten sich untereinander angesehen, gelächelt und Fragen um Fragen gestellt, Häkchen und Striche auf ihren Papieren gemacht und oft gestritten. Sie ist unverdorben, hatte ein junger Bärtiger, einer der Wohlmeinenden, gesagt. Dagegen die Bedenken einer rundlich glatt gekämmten Frau. Was hat sie im Kern zum Naturalismus hervorgebracht? Hat sie überhaupt eine einzige Frage beantwortet? Der mit dem kleinen roten Bart wollte die Anmerkung seiner Kollegin nicht gelten lassen. Sie ist unerschrocken in ihrem Weltbild. Sie kommt aus Sachsen. Eine autonome Erscheinung. Eli hatte auf die Frage nach der Bedeutung von Fichte und Schelling für die deutsche Philosophie gesagt: Johann Gottlieb Fichte und Friedrich Wilhelm Joseph Schelling hatte in unserer Leihbücherei grade jemand geklaut.
    Wo man reinsticht, alles hohl. So hatte die Zwischenbilanz des Vorsitzenden ausgesehen. Mit breitem verdrießlichem Professorenangesicht und zu Berge stehendem weißem Haar. Er war an der Reihe, er führte die Befragung weiter: Daran erkenneich meine Pappenheimer, wer sagt das, wann und in welchem Stück, und wer hat das Stück geschrieben. Kann es sein, dass Sie
Wallenstein
nicht kennen? Was haben Sie überhaupt von Schiller gelesen? Nennen Sie wenigstens ein Stück von ihm. Nach ungemütlichem Schweigen fügte er gequält leise, inständig bittend hinzu: Und sei es das mit dem Apfelschuss.
    Tell, hatte Eli gerufen, der Tell-Apfel ist ein sehr feines Schokoladenerzeugnis von VEB Elbflorenz, und
Wilhelm Tell
ist außerdem ein Theaterstück von Friedrich Schiller. Sie wollte nun den Dresdner Tell-Apfel beschreiben, rotes Stanniol, Stiel und Blätter aus Draht und Wachspapier. Schokoladenspalten, die beim Aufklopfen auseinanderfallen. Der Vorsitzende sagte: Stopp.
    Darauf waren die Wohlmeinenden wieder an der Reihe.
Wilhelm Meister
. Mignon. Kennst du das Land, wo die Zitronen blühn.
    Eli faltete die Hände und erzählte von ihren Setzlingen, den Zitronen, die sie am Ufer der Elbe auf Anordnung des Obergärtners auspflanzen sollte, beschwor den Konflikt, das große gesellschaftliche Anliegen: Ansiedlung der Zitrone im Elbtal und ihre Einsichten und Erfahrungen mit dem bevorstehenden Winter in dieser Region, die eiskalten Füße, die erfrorenen Finger. Der Bärtige hörte verständnisvoll zu. Die anderen Wohlmeinenden warteten auf den Kern der Geschichte. Der Vorsitzende sagte: Recht gut, aber keine Lösung. Eli hätte erzählen können, dass besagte Zitronen auf Dresdner Fensterbrettern und in der Orangerie des Botanischen Gartens eine Rettung gefunden hatten. Sie schwieg. Der Vorsitzende stellte die nächste Frage, es war die nach der Metamorphose in der Natur.
    Das brachte Punkte und verwies auf die Herkunft: echt Arbeiter. Sehr gut für die Prozente. Grünes Licht für das Experiment Rafaela Reich.
    Der Rotbärtige, Schüler von Ernst Bloch, Hans Mayer und Georg Lukács, musste als Assistent des Vorsitzenden der
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