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Sepia

Sepia

Titel: Sepia
Autoren: Helga Schuetz
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Woche sitzt Eli bei den meisten Vorstellungen ganz allein im Saal. Man spielt
Das Lied von Sibirien
. Ein Naturfilm, wo eine Landschaft darauf wartet, dass der Mensch vielleicht einmal wieder von der Erde verschwindet. Wunderbare Wälder, gespenstische Fabriken, verletzte Krieger, Helden. Manchmal spricht Eli mit der Platzanweiserin, einmal hat der Filmvorführer Zeit, ihr die Vorführgeräte, die Projektoren, zu erklären. Er streckt Eli zur Begrüßung die linke Hand entgegen. Ich mache alles mit links, sagt er, der rechte Arm liegt im Donezbecken. Eli verbirgt ihr Ungeschick, verwirft ein Bedauern, denn sie sieht sofort, dass hier ein Zauberer waltet.
    In der Woche darauf steht
Romanze in Moll
auf dem Spielplan. Von da an ist der Saal voll. Niemand hat mehr Zeit, und Eli hat ihre plumpe Neugier vergessen. Eli ist hingerissen. Es ist schön, wenn in Sekunden ein Feld voller Sonnenblumen erblüht, aber hier blüht das Menschenleben. Man schaut zwei Stunden zu, was andere Leute träumen. Eli heult wie lang nicht mehr. Sie ist ja auch vorher sonnabends gerne ins Kino gegangen, aber nun hat sie gesehen, wer die Sache in Gang setzt. Eli beschließt: Genau so ein Kulturmensch möchte ich sein. Ich öffne den silbernen Vorhang, ich lasse den Gong ertönen, ich gieße dreimal am Tag über die Köpfe der Zuschauer hinweg das Licht aus, kegelförmig aus meinem Apparat durch das kleine Fenster zur großen Leinwand, dort schaust du in die Welt und den Menschen ins Herz. Sibirien, Birken und die Liebe.Manchmal auch Krieg. Wie ein Mann, der Sohn, der Bruder, der Liebste, im Krieg verwundet wird, dann aber durch den Beistand der fortschrittlichen Kräfte überlebt. Vielleicht könnte ich lernen, wie ein Projektor funktioniert. Man muss die verschiedenen Spulen und Triebräder auseinandernehmen. Man muss wissen, wie eins ins andere passt und wo die Radlager geölt werden müssen. Es sind lauter feinmechanische Teile. Ich muss säurefreies Öl besorgen, damit die Zahnräder ineinandergreifen, damit die Lager der vielen Spulen sich nicht im Laufe des Betriebs festfressen und dann womöglich während der Vorführung der Film reißt. Filmriss. Das darf niemals geschehen. Berufsehre. Man muss das ganze Umfeld studieren. Geschichtliches und Philosophie. Im Kasten des Vorführers hängt der Spruch.
Das Herz ist ein Hund
.
    In der Bibliothek am Sachsenplatz holt sich Eli einen Deutschlandatlas auf den Lesetisch, es ist ein altes Kraft-durch-Freude-Exemplar, man findet darin auf Sonderseiten die Pläne der großen Städte des Reichs. Potsdam liegt bei Berlin und zeigt viel Grün und Blau, also Wald und Wasser. Auch die Parks in Potsdam sind auf dem Atlas grüne Flächen. Helles Grün der Kultur, gegen das dunklere Grün des Waldes. Sanssouci zum Beispiel. Sanssouci heißt
Ohne Sorge
.
    Frohgemut trägt Eli den Atlas zurück. Sie lässt sich auch gleich aus der Leserliste streichen. Ich zieh um, erklärt sie. Die Frau hinter dem Tresen setzt einen sauberen Stempel. Ungültig, quer über Namen und Adresse.
    Eli geht notwendige Schritte. In der Verwaltung bekommt sie eine Lohnabrechnung und die Aufbaunadel, denn sie hat an Aufbausonntagen geholfen, zwischen Rathaus und Hauptbahnhof einen Erholungspark zu gestalten. Fertig das Ganze. Die Trümmer sind aufgeräumt.
    Bei Henn im Büro hängt der Spruch
Wollen befreit, denn Wollen ist Schaffen.
    Henn nimmt Elis Stiefel entgegen. Die Filzstiefel sind Eigentum des Botanischen Gartens. Eli macht ein entschlossenes Gesicht.
    Wenn es nicht klappt, kommst du wieder.
    Bloß nicht heulen. Eli stiert vor lauter Rührung auf den anderen Spruch, der in getuschter Kunstschrift über dem Rollschrank hängt.
    Jeder geschlossene Pflanzenbestand hat zu Charakterarten diejenigen, welche den Teppich der Pflanzendecke in ihrer Geselligkeit an erster Stelle wirken und in welche die Übrigen als beigemischte Nebenarten eingestreut sind
.
    Henn folgt ihren Augen.
    Der Spruch ist vielleicht blöd, aber er ist von Drude, und Drude war mal mein Chef hier im Botanischen Garten, und nun verschwinde.
    Henn in seiner blauen Latzhose, Stoppelgesicht, wendet sich ab, er zieht einen Damenstrumpf über Schädel, Nase und Kinn, unter der Maske ist er schon wieder ein anderer, nicht Henn, der Schweigsame, nicht der Mann der schönen Rede, er ist der mit den giftigen Nebelstreifen, der die Glashäuser mit DDT ausräuchert, Henn, der Läusekrieger.
    Eli geht. Ein bisschen Verrat und Selbstbetrug steckt in jedem
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