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Sepia

Sepia

Titel: Sepia
Autoren: Helga Schuetz
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hin, sogar im Finstern, weil der Klecks wie für Blinde mit den Fingern fühlbar ist. So vermeidet er Mozart vom Sender Freies Europa und kommt auch in dunkler Nacht nicht in Versuchung, einem geschickt gesponnenen Kommentar aus Köln zu lauschen. Er gibt uns diesen Tipp mit dem Ölfarbenklecks. Er verzeiht uns die Ausflüchte, die wir haben. Ludwig meint, seine Farbe verwische auf seiner Skala. Ich habe leider kein Radio. Siegfried hat Geduldmit uns, mit Ludwig und mit mir. Er runzelt die Stirn, schaut aus guten blauen Augen, lächelt milde und erklärt uns die Sache noch einmal von vorn. Mir hat er schon ein paarmal erklärt, wie das ist mit dem Helden. Es gibt negative Helden, vor allem aber positive.
    Siegfried eilt jeden Tag die Strecke vom Bahnhof, die lange Lindenallee, entlang, mit hängenden Schultern, die Aktentasche schwer, immer ein Auge auf der Taschenuhr, die er in der Hand vor sich herträgt. In den Pausen zieht er die Uhr aus der Hosentasche. Er schaut, wie schnell eine Minute verlorengeht. Die Zeit, die wir hier herumsitzen, ist unwiederbringlich vorbei. Er sagt Ludwig und mir Bescheid, wenn es nach der Pause wieder anfängt und wo. Kunstgeschichte im Raum 3, zusammen mit den Kamerastudenten. Wir müssen dem Studenten Meng Hai-Feng erklären, dass es nicht Leda und die Gans heißt, sondern Leda und der Schwan und dass der Schwan eigentlich ein Gott ist, nämlich Zeus, und was die auf dem Dia vorn an der Wand miteinander machen.
    Unser Dozent für Kunstgeschichte, der schüchterne Kunert, klopft mit dem Zeigestab auf die Details, er sucht die goldene Mitte, die Spannung zwischen den Farben, er berührt das Motiv.
    Meng Hai-Feng stößt mich an. Na zhi e xian gan shenme? Das heißt: Was macht diese Gans?
    Ich wiederhole nur, das ist keine Gans, das ist ein Schwan. Er blättert im Wörterbuch. E heißt Gans. Und tian é heißt himmlische oder hehre Gans, also Schwan. Wir nehmen Rücksicht auf die Ausländer in den Fachrichtungen. Die meisten essen nicht in der Mensa. Sie kochen im Internat. Manche haben von zu Hause Gewürze und Büchsen mitgebracht. Kokosmilch. Bohnenpaste. Es riecht fremd, manchmal gut, aber Kreuzkümmel und Koriander ist nichts für jeden Tag.
    Montags nimmt mich Felix in der Pause beiseite. Er schlägtseine feste Mappe auf. Ein neuer Werbetext. Schreib ich Dir, schreibst Du mir, immer auf ZK-Papier. Oder er zeigt mir seinen gedruckten Text, den er aus dem Magazin ausgeschnitten und auf Pappe aufgeklebt hat. Felix Wiener steht darunter. Es ist sein Pseudonym.
     
    Lieber Großvater, alter Anton,
    jetzt sollst Du Dir einmal vorstellen, wie wir montags leben, nämlich fürstlich. In einer Villa am See. Man kann sogar von einem Sommerschloss oder Sommersitz reden, im Gegensatz zum Wintersitz, der befindet sich irgendwo in der Mitte von Berlin. Es war einmal ein Teppichhändler, der lebte viele Jahre eventuell glücklich in einem wunderschönen Gemäuer mit vielen freundlichen Gemächern. Jetzt sind
wir
drin. Bibliothek. Seminarräume. Dekanbüro. Filmlager. Am gegenüberliegenden Ufer, der bewaldete Hügel, das ist der Mont Klamotte, das ist der Westen. Dort liegen die Trümmer von Berlin. Auf unserer Seite sieht alles sehr friedlich und schön aus. Keine Bomben. Die Häuser mit Garten waren nach dem Krieg gut geeignet als Quartier für die Sieger, Russen, Engländer und Amerikaner, sie wohnten hier in den Wochen der Konferenz, während der sie die Strafe für Deutschland festgelegt haben: die Besatzungszonen und die Abtrennung der Ostgebiete, also auch Großvater Heinrichs Garten und Felder, das Katzbachgebirge, Probstein, Pilgramsdorf und so weiter. In unserer Villa wohnte Stalin, und so liest man es noch auf der Marmortafel, die aber jetzt abgeschraubt im Kellergang steht: Hier lebte Generalissimus Josef Wissarionowitsch Stalin während der Zeit der Potsdamer Konferenz.
    Wir haben hier im Salon der Beletage montags beim Dekan Hauptfach. Unter dem ovalen Tisch das Oval eines prächtigen Teppichs, Blumenmotive, die mit dem Dekor der Stuckdecke korrespondieren.
    Die Teppiche, die gerafften Vorhänge zu beiden Seiten der Balkontür dämpfen unsere Debatten. Es ist sehr hell. Die Sonne blendet.
    Der Dekan sitzt gegenüber. Auf ihn fällt das Licht. Alles an ihm ist nobel, der Anzug, die Frisur, sein Alter, die Zigaretten, die er umständlich aus der Jackentasche fischt. Während der Nazijahre war er Emigrant in der Sowjetunion. Wahrscheinlich musste er fliehen, weil er wahrscheinlich Jude
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