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Sepia

Sepia

Titel: Sepia
Autoren: Helga Schuetz
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mit Chrysanthemen, lauter Angebinde zum Siebzigsten. Er sucht die Zigarette, das Feuerzeug, ganz kann er die Bühnenpose nicht lassen. Sie schützt, weil er jetzt zur Sache kommen will. Es ist auch, weil er sich gegen den Lärm durchsetzen muss. Unterhalb des Fensters, wenig entfernt vom Balkon, ist es wieder laut geworden, Tumult, Erdmassen, Sträucher und Bäume werden in den See geschoben. An Stelle des Stacheldrahtes soll eine Wand gebaut werden. Vor einer Minute war es noch totenstill, plötzlich scheint wieder Eile geboten.
    Schwer zu verstehen, aber ich bin dabei gewesen, zwanzig Jahre nach der Revolution, und ich bin davongekommen.
    Der Dekan lächelt wehmütig, weil ihm, während er sich erklärt, orgelt, wie die Studenten sagen, bewusst wird, dass Rafaela Reich zu jener Zeit wahrscheinlich noch gar nicht auf der Welt war. In dieser abgelebten Zeit, früher, weit hinten in der Geschichte.
    Zwei harmlose Burschen hatten in der Tür gestanden, sie sahen wie Mitarbeiter der Theaterwerkstätten aus, sie schlenderten durch unsere Kantine, es war gegen Mitternacht, die Kantine im Bolschoitheater hatte immer bis in den Morgen geöffnet, einer der Burschen klopfte meinem Freund Meyer-Krugmann freundlich auf die Schulter. Mein Freund entschuldigte sich bei mir: Vergiss mal deine Rede nicht, wir streitengleich weiter, zu den mit uns feiernden Schauspielern am Tisch sagte er: Rebjata, ich bin gleich zurück.
    Er ward nie mehr gesehen.
    Mein Vater hatte mit seinen Studenten von der Lomonossow-Universität eine geologische Exkursion unternommen. Sie kamen nicht wieder nach Hause.
    Ich möchte schwören, ich weiß, auch wenn mir niemand ernstlich glauben will, ich habe meinen Vater noch einmal gesehen. Auf dem Transport von Lager Magadan-Ost nach West an der Kolyma-Straße. Ich weiß, er war es, er hatte, solange ich denken kann, rechts schwarzes und links graues Haar. Die Geologenfreunde nannten ihn deswegen gern Harlekin. Unser Waggon fuhr langsam an einer Kolonne vorbei.
    Krugmann, mein Freund, ist wohl gleich von Moskau nach Butowo gebracht worden. Dort war nach Befehl Nr. 00   439 Endstation.
     
    Zuerst geht im Haupthaus das Gerücht, der Dekan habe sich das Leben genommen. Er habe sich erschossen. Die Feuerwehr habe ihn in einer Tiefgarage aus einem Fahrstuhlschacht herausgeholt. Schreckliche Umstände werden erzählt. Unterirdisch sei es geschehen.
    Offiziell gibt es keine Verlautbarungen und auch keine Beerdigung, zu der man hätte hingehen können.
    Siegfried Müller meint, er hätte wenigsten vorher Elis Arbeit bewerten können.
    Hat er, entgegnet die Sachbearbeiterin im Sekretariat. Es ist allerdings noch nicht klar, ob sein Urteil als Abschlussnote anerkannt wird. Und sie sagt, dass der alte Finsterling manchmal auch lächeln konnte. Man fragt sich, ob er Schulden hatte oder eine Liebesgeschichte, es muss doch was dahinterstecken. Er war manchmal freundlich, aber immer recht fremd, er soll Jude gewesen sein.
    Siegfried denkt sich sein Teil, er hat während seiner Recherchen auf der Königsebene, eigentlich sollte er nur das Jahresprogramm der populärwissenschaftlichen, der Popuwi-Filme begutachten, Sachen gehört, Namen wie Petőfi, was ja eigentlich nur der Name eines ungarischen Schriftstellers ist, aber wohl auch der Name eines Clubs in Ungarn, in diesem Zusammenhang waren dann hiesige Geistesschaffende, Philosophen und Schriftsteller aufgefallen, die sogar ein Programm gemacht hatten. Die Sache hieß kurzgefasst Konterrevolution, mit dem Ergebnis Zuchthaus oder Gefängnis, jedenfalls Bautzen. Einige sind aus verschwommenen Gründen davongekommen und an abgelegenen Orten in Schulen und Archiven verschwunden. Auch für die, die jetzt nach acht oder neun Jahren entlassen werden, muss man einen Posten finden, wo sie im Abseits leben und stillhalten können. Nunmehr wieder als normale Lektoren, Bibliothekare, Dramaturgieassistenten, im Alltag freundlich und klug, manchmal bitter, manchmal blitzt in einem Wort, einer Anmerkung ihr Geheimnis auf wie im Märchen, wenn an einer Stelle etwas Gold durch das Fell des zahmen Bären blinkt. Nur ein Schimmer, mehr nicht. Man sucht, wenn es sich machen lässt, ihre Nähe, vorsichtig, man möchte sie keinesfalls verletzen, denn sie müssen höchst empfindlich sein, nach allem, was sie erfahren haben und wissen. Man fragt nicht, weil das der Anstand gebietet, und von der anderen Seite verbietet eine Unterschrift am Entlassungstag, eine Selbstverpflichtung, jedes Wort
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