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Sepia

Sepia

Titel: Sepia
Autoren: Helga Schuetz
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Eigentlich ist es den Studenten verboten, für Geld zu arbeiten. Im Filmbereich, bis auf Ausnahmen, sowieso, weil die Praxis nicht selten den Ausbildungszielen widerspricht und damit die mühsam koordinierten Lehrpläne in Frage stellt. Am Drehort höhnen die alten Hasen von der Ufa und die neuen von der Defa. Wofür seid ihr eigentlich zu gebrauchen! Ihr könnt nicht mal Schärfeziehn. Und dafür sitzt ihr vier Jahre unter Rotlicht im Brutkasten! Erstens: Bildschärfe, zweitens: Phantasie beim Requisitenbeschaffen, drittens: in einem Malheur sofort die Kunst erkennen, das macht einen guten Profi.
    Die Studenten höhnen – in den seltenen Ausnahmefällen – überheblich zurück. Kunst? Was ist Kunst?
    Darüber hinaus gilt das Verbot aus Gründen der Schuldisziplin, weil man als Student nur durch Studienleistungen zu mehr Geld kommen soll, jeder hat die Chance, sich ein Leistungsstipendium zu verdienen. Siehe Siegfried Müller, der holt sich Jahr für Jahr mit eins Komma null sein Karl-Marx-Stipendium. Muss er, das braucht er für seine Familie.
    Lohnarbeit frisst Studienzeit. Eure Jahre sind kostbar. Außerdemstoßt ihr da draußen in der Produktion auf all die untauglichen überholten Konflikte. Das Sommerpraktikum und der Ernteeinsatz bringen schon Probleme genug. Als Student hat man eine einzige große Pflicht gegenüber dem Volke, die heißt: studieren.
     
    Auf dem Dekantisch liegt in der Umlaufmappe ein Schreiben aus dem Prorektorat. Zur Kenntnisnahme und Bearbeitung eines Tatbestandes.
    Rafaela Reich arbeitet für Geld in Sanssouci.
    Der Dekan wundert sich nicht, weder über den Tatbestand noch über die Täterin.
    Weil ich die junge Dame kenne.
    Rafaela Reich ist weder mutig noch leichtsinnig, sie macht einfach, was ihr passt, und hofft, nicht erwischt zu werden. Er will tun, was er noch tun kann, aber in diesem Falle zerteilt er das Schreiben sorgfältig, streifenweise, längs und dann noch quer, wischt die Papierfetzen in die Hand, erhebt sich aus dem schweren Stuhl, er wirft die Fetzen nicht in den Papierkorb, sondern weit aus dem Fenster. Manchen Gewohnheiten kann er sich nicht entziehen. Ein kleiner Wind treibt die Flocken hinunter ins sumpfige Gelände am See, wo Baumaschinen bereitstehen, wo sich Betonplatten stapeln. Auch das Rauchen kann er sich wahrscheinlich nicht abgewöhnen. Das Rauchen und die Obacht. Früher ging es um Leben und Tod, jetzt ist es eine Angewohnheit. Kindisch. Das sind seine Möglichkeiten. Es ist gut, dass er ein alter kindischer und kurzsichtiger Greis ist, darauf kann er sich berufen. Viel mehr als auf frühere sogenannte Verdienste. Er darf alles sein, klug, vergesslich, bescheiden, anmaßend, er darf unverschämte Forderungen stellen. Gesundheitskuren, Gelder aus dem Sonderfonds. Gute Zigaretten, Mogadon, das Schlafmittel aus dem Westen, das ihm sanfte Träume beschert. Das hat sich ergeben,das hat er herausgefunden, auch wie er dem heute aktuellen Treiben nahe sein kann, hat er herausgefunden. Vom Fenster seines Dekanzimmers aus hat er den Balkon des großen Seminarraums im Blick, von hier aus, von seinem Platz hinter dem Schreibtisch, kann er Anteil nehmen, er kann dabei sein während der Pausen, von hier aus kann er ihre lauten Stimmen hören, die ahnungslosen Reden. Viel zu viel Lachen und viel zu laut. Manchmal werfen sie sich mit Kiefernzapfen, einmal haben sie mit Kiefernzapfen unten auf die Grenzsoldaten gezielt. Das ging hin und her, als sei der offene ungeschützte Raum ein Experimentiertheater. Er hätte eingreifen müssen, oft hätte er Sachen untersagen müssen. Vielleicht hilft ihnen ihre Naivität durch das Leben. Der Raum, ein Spielplatz. Wenn das Bauernmädchen einmal zu Wort kommt, möchte er den anderen Schwätzern das Maul verbieten. Sächsische Untertöne. Hier macht er sich stille unerlaubte Hoffnungen. Wahrscheinlich inzwischen väterliche. Er weiß ja nicht, wie man beschaffen sein würde, wenn man ein anderer wäre. Heute jung. Er möchte dennoch mit niemandem tauschen. Jetzt nicht mehr.
    Hier am Ort hat er seine besten Stunden. An der Wand seines Dekanzimmers hat er ein Kinoplakat aufhängen lassen. Ein Sonnenblumenfeld in ungewöhnlicher Perspektive. Aus früheren Zeiten stammt die berühmte Bronze des betenden Knaben. Sie steht als verkleinerte Version in einer Nische. Ein unschuldiges Kind.
    Auch er möchte beten, die Stunde ist jetzt still genug, beten oder meditieren oder zu einem Ende kommen. Er ist ein kindischer Greis, rehabilitiert, also
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