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Sepia

Sepia

Titel: Sepia
Autoren: Helga Schuetz
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freigesprochen, also schuldlos, er kann Forderungen stellen und kunterbunte Sachen reden, dabei ist ihm Verschwiegenheit, wie die Wachsamkeit und das Rauchen, zu einer Gewohnheit geworden. Gibt es ein Verbot, eine Übereinkunft, oder will er seinerseits, aus Überzeugung,nicht reden, das mag ein Unterschied sein. Bei ihm kommt beides zusammen wie bei widerspenstigen Kindern.
    Er sitzt im Stuhl, die Ellenbogen auf der Schreibtischplatte, die Hände wie eine Kapsel gegen die Schläfen gepresst. So sitzt er oft hier, wenn die Studenten fort sind. Es ist seine Haltung. Als wolle er sich abschotten gegen den Lärm der Baumaschinen, gegen den Aufruhr, der manchmal unten am See ausbricht.
    Zur Stunde ist es seltsam still draußen und auch im Kopf.
    Dieser Tage siebzig geworden, Glückwunschadressen von Parteien und Organisationen, dazu ein Orden und das Dienstauto mit Fahrer. Auf den Kulturseiten der Zeitungen eine kurze Tagesnotiz mit höflicher Würdigung der frühen Verdienste beim Avantgardistischen Theater, der späteren Pionierleistungen beim Wiederaufbau der deutschen demokratischen Filmkunst. Er nennt das Gebäude, in dem er seine guten, lächerlich schmerzlichen Stunden verbringt, nicht wie die Studenten. Die Studenten sagen, was Sache ist, und nehmen beim Wort, was der offiziellen Denkart widerspricht. Stalin-Haus, obwohl Stalin gestorben ist, total. Auch mit Namen. Vorläufig aus der Geschichte gelöscht. Nur noch intern, unter Verschluss, wird der Zeit kritisch gedacht. Er ist davon ausgeschlossen, und das ist gut so.
    Er konnte den Namen bisher ohne Not umgehen. Manchmal nennt er, um sich zu erklären, die Hausnummer des Gebäudes. Denn er fürchtet sich. Ihm graust vor dem Klang des Wortes aus seinem Mund.
    Er sitzt auf dem Stuhl, er stützt sich auf den Schreibtisch, an dem Stalin saß. Man muss nur alles, was man über den Tod Gottes weiß, auf den Teufel übertragen, dann ist das Böse aus dem Holz verschwunden, das Zimmer ist rein. Man muss wahrscheinlich viel Kraft aufbringen. Man braucht Kraft, um es sich bequem zu machen, sogar das Rauchen macht Mühe.
    In der Umlaufmappe auf dem Schreibtisch liegen noch einige Papiere. Die Zeit vergeht, er unterschreibt und zerreißt. Er schützt seine Studenten. Manchmal genügt seine Unterschrift als Befürwortung für einen Wechsel der Fakultäten.
    Er nimmt den obersten Text vom Stapel der Jahresarbeiten, ein Student aus dem jüngeren Jahrgang schreibt über ein Neubauerndorf im Gebirge, alles ist gut. Ungefähr alles ist gut. Warum denn nicht?
    Ich bin bei Troste. So gründlich bei Troste war ich nie. Es gibt keinen Lebensroman, keine Moskaumemoiren und kein Refugium Freiberg, Geschichten über die Silberstadt in Sachsen. Wer sagt denn, Manuskripte brennen nicht, meine Papiere sind mit einem Streichholz in einer knappen Stunde zu schwarzer Fusselasche geworden. Erinnerung ist ein extrem trockenes Konstrukt. Ich habe meiner einzigen Verwandten, sie nennt mich Onkel, weil ich wahrscheinlich ihr Urgroßonkel bin, in den Mineralogischen Sammlungen zu treuen Händen eine Liste hinterlassen. Bitte nicht vergessen. Namen. Geologen aus aller Welt, die ich in väterlicher Umgebung kennenlernen durfte. Handschriftlich eine Liste. Von der Liste kann man später genug erfahren. Eine Liste kann mehr bewahren und bewegen. Sie enthält das Unaussprechliche. Eine Liste ist bewegender als mein gefärbtes definiertes Andenken. Die Verzeichneten sind unter verschiedenen Umständen in Gefängnissen und Lagern umgekommen. Lauter Namen. So auch der Name meines Vaters: an die Kolyma verbannt, auf dem Weg an die Indigirka erfroren. Oder sein Freiberger Student Rudolf, Ruwim, Samoilowitsch, Geologe, Geograph, Polarforscher, Leiter von Rettungsexpeditionen, Ruwim, der mit dem Grafen Eckener im Luftschiff unterwegs war: verurteilt, erschossen.
     
    Der Dekan verlässt das Dekanzimmer, das holzgetäfelte Rauchzimmer mit dem betenden Knaben, den Sonnenblumen, erschließt die gepolsterte Tür. Er geht entschlossen, als wäre es ein Montagmorgen oder ein Freitag, aber es ist Sonnabend, und niemand ist im Haus, das Vestibül ist dunkel, die Teppiche schlucken seine Schritte.
    Im leeren Seminarraum, dem großen Salon, setzt er sich an seinen angestammten Dozierplatz, dem hohen Balkonfenster gegenüber. Es bleibt ihm überlassen, wie lange er redet, ob er eine Pause macht, das Thema steht ihm frei. In der Mitte des Tisches prangt noch das Orchideengesteck, dazu, im Raum verteilt, die Bodenvasen
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