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Sepia

Sepia

Titel: Sepia
Autoren: Helga Schuetz
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über alles. Schweigen, um des Friedens willen. Manchmal etwas Gerede, gelegentlich ein Gerücht.
    Siegfried dringt bis zu einigen Tatsachen vor. Doch am Ende weiß er nicht weiter, weil er den Marxismus-Leninismus in der Praxis etablieren will und das, während der Kapitalismus hinter dem Eisernen Vorhang blüht wie nie, und das, während der Mensch auch dieser Tage noch so ist, wie er schon zu Noahs Zeit war: nett, aber neidisch.
    Vom Dekan geht das Gerücht, er habe seine Jugendzeit in den zwanziger Jahre in Moskau verbracht. Kolonne Links, so was stellt man sich vor. Revolutionäres Theater, zusammen mit jungen Architekten vom Bauhaus in Dessau. Avantgardisten.
    Der Chauffeur verbreitet, auch den Vater seines Chefs habe es unter Stalin an einer Universität in der UdSSR erwischt. Im Bunde mit anderen Geologen. Sie waren einem Ruf gefolgt, sollten Flüsse umleiten und Berge versetzen. Ja, das wurde auch gemacht, aber zwischendurch gab es Säuberungen. Die Umgestaltung der Natur kostete ziemlich viel Material und Menschen. Kostete die Freiberger Geologen.
    Der Dekan hat überlebt. Die Lubljanka. Gulag. Kasachstan. Wie? Recht und schlecht. Oder weniger recht? Es ist gut, dass man kein vermessenes Urteil hört.
     
    Es war einmal ein weiser, würdiger Dekan, der saß jeden Montag in einem Seminarraum an einem blank polierten Mahagonitisch, es war in schöner Umgebung an einem See in den Mauern einer stattlichen Villa, die sich ein Teppichhändler in guten Zeiten hatte bauen lassen. Weil Stalin, der Generalissimus, nach dem Krieg für einige Wochen fürstlich darin einquartiert worden war, hieß die Villa erst offiziell und ehrenhalber, später, nach den Enthüllungen seiner Verbrechen, weiterhin trotzig herausfordernd oder einfach nur der müden Gewohnheit folgend: Stalin-Haus.
    Die Sonne fiel durch große Fenster auf die Rücken der Studenten und in sein aus der Stirn gebürstetes silbernes Haar. Ein Strahlenkranz. Man sah ihn im Licht.
    Wie gut er Russisch konnte, das weiß man nicht. Er liebte russisches Kino, den Regisseur Pudowkin vor Eisenstein und am meisten den Film
Erde
von Dowtschenko. Deswegen das Plakat mit den Sonnenblumen. Er hatte es vom Hausmeisterfestmachen lassen, zwischen den Teppichfabrikantensachen und den Dekorationen für Stalin, dem betenden Knaben, der stammte aus diesen Wochen nach dem Krieg.
     
    Einmal hatte der Dekan, über Elis Anfangskapitel des Laokoon referierend, ein paar kühle irritierende Anmerkungen gemacht: Er glaube, dass Strukturen nicht ewig sind. Helden seien sowieso eine optische Täuschung. Die Täuschung komme daher, weil wir uns die Freiheit nehmen, unsere Existenz durch ein Vergrößerungsglas zu sehen.
    Sie müssen wissen und anerkennen, dass alles, was Ihnen wichtig und wesentlich erscheint, wofür Sie kämpfen und woran Sie glauben, nur auf dieser vergrößerten Ebene einen Sinn hat. Wenn Sie sich jedoch im – langfristigen – Maßstab der unendlichen Räume betrachten, hat manches keinen Sinn mehr.
    Er orgelte ziemlich schnell, man hörte kaum noch hin, Siegfried hatte die Uhr auf den Tisch gelegt.
    Der Mensch, so meinte er damals, sei für das Universum ein vorübergehendes Ereignis, so wie jedes Wesen auf Erden seine Zeit habe. Demut spräche aus der Skulpturengruppe. Bescheidenheit. Die Schlangen kröchen wie der Strom der Zeit, würgend und beißend.
    Da hatte Eli an Flucht gedacht, mutig über den See, trotz des Bleis in den Knochen weiter nach Rom.
    In der Pause auf dem Balkon dann Siegfried Müller: Eli, du als Arbeiterkind hast, als ein Gast im Universum, dieser Tage eine besondere Chance.
    Welche denn?
    Du darfst jetzt mal den Sinn suchen.
    Ich hab schon genug zu tun, ich brauche Geld, hatte Eli gesagt, und der Laokoon braucht ein Ende.
    Die Grenzsoldaten rollten ein rotes Band am platt gewalztenUfer entlang. Der Begleithund hechelte durstig und wachsam. Einer der Grenzer warf eine Kusshand hinauf zum Balkon.
    Eli streckte die Zunge heraus, sie zog eine Fratze.
    Wenn wir uns auf den Kopf stellen würden? Oder schreien. Oder in der nächsten Versammlung eine Rede hielten? Oder ich singe einfach ein Lied, hatte Eli gesagt. Kennst du das Land, wo die Zitronen blühn?
    Kannst du denn singen?
    Nicht schön, aber ich singe gerne.
     
    Der Hausmeister räumt das Dekanzimmer auf. Den Schreibtisch. Viel ist es nicht. Im Schubkasten ein einsames Taschentuch. Ein Stapel Studentenarbeiten, eine Umlaufmappe, ein Feuerzeug, Zigarettenschachtel, ein hektographiertes
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