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Sensenmann

Sensenmann

Titel: Sensenmann
Autoren: Clausia Puhlfürst
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lieber über die Leiche geschrieben?« Friedrich schnippte Asche in das große Silbermaul des Standaschenbechers neben der Eingangstür.
    »Für Straftaten und Gerichtsberichte bin ich zuständig.« Lara versuchte, tief ein- und auszuatmen.
    »Aber wenn Tom eh dort ist… und auch schon mit Stiller gesprochen hat …«
    »Das wäre auch meine Aufgabe gewesen!«
    »Er will dir doch nur helfen. Und mit KK Stiller kannst du doch eh nicht.«
    »Ja, aber…«
    »Dann lass ihn das doch machen, und sieh es einfach als Arbeitserleichterung. Ich glaube nicht, dass Tom dir eins auswischen will.« Friedrich drückte den Stummel aus. »Gehen wir wieder hoch. Manchmal klappt halt nicht alles so, wie man sich das wünscht.«
    Lara schluckte. So wie Friedrich das sagte, klang alles ganz stimmig. Sah denn niemand, dass Tom versuchte, sie auszubooten?

4
    An Mama und Papa
    Wo seit ihr? Ich vermisse euch so ser. Liebe Mama, hoffendlich bist du wieder gesund. Bitte kommt und hohlt mich hier ab.
    Bitte bald.
    Ich habe euch ser lieb.
    Eure Melissa
    Matthias Hase betrachtete die Kinderschrift. Das Papier zitterte in seinen Händen. Es war schon ein bisschen vergilbt und die Ecken zerbröselten allmählich. Unter die Zeilen hatte das Kind noch ein großes rotes Herz gemalt.
    Melissa war nicht lange bei ihnen gewesen, und doch hatte sich ihr Bild tief in sein Herz gegraben. Genau wusste er es nicht mehr, aber es konnte höchstens ein halbes Jahr gewesen sein. Eines Tages verschwand sie, wie sie gekommen war, verschwanden ihre Sachen auf geheimnisvolle Weise aus ihrem Schrank, verschwanden alle materiellen Erinnerungen; so als sei die Kleine nie dagewesen. Bis auf diesen Brief.
     
    Matthias’ Gedächtnis hatte die Szene konserviert. Jede Einzelheit war noch vorhanden: der stickige Schlafsaal mit den Doppelstockbetten, sauber übereinandergefaltete Decken, das rötliche Muster des Linoleums, die müden Sonnenstrahlen, die zu den Fenstern hereinschienen, die tote Fliege auf dem Fußboden neben dem Tischbein. In der rechten Ecke des großen Zimmers, dort, wo es auch am Nachmittag dämmrig war, hatte Melissa gehockt, die Arme um die dünnen Beinchen geschlungen, das Gesicht
zwischen den Knien versteckt. Sie musste ihn gehört haben, weil er sehen konnte, wie sie bei seinen Schritten erschauerte, aber sie hatte nicht aufgeschaut, hatte sich stattdessen nur noch stärker zusammengekrümmt.
    Erst als seine Hand ihre Schulter sanft berührte  – die Knochen waren unter der Haut deutlich zu spüren  –, erst dann hob sie den Kopf und sah ihn an. Ihre Augen waren gerötet und schimmerten feucht, und sie schniefte. Matthias wusste noch, dass er in seiner Hosentasche nach einem Taschentuch gesucht, aber keines gefunden hatte. Sie trug »Affenschaukeln«, die gleiche Zopffrisur, die auch seine Schwester Mandy liebte. Vielleicht war es das gewesen, was sein Herz am stärksten berührt hatte.
     
    Warum waren er und Melissa an diesem Tag eigentlich nicht bei den anderen gewesen? Nachmittags hatten die Kinder in den Schlafsälen nichts zu suchen, von zwei Uhr bis zum Abendessen saßen alle in dem Raum, den sie das »Hausaufgaben-Zimmer« nannten, und befassten sich mit Schularbeiten. Auch an den Wochenenden verbrachten sie die Nachmittage dort. Es gab immer etwas zu lernen oder vorzubereiten für das Kollektiv des Kinderheims, wie man die Kinder nannte. Irgendwie jedoch musste es ihnen an diesem Tag geglückt sein, sich der Aufsicht zu entziehen, und da hatten sie nun gehockt  – der große, schlaksige Vierzehnjährige und das kleine, zarte Mädchen.
    Nach einer Weile hatte Melissa aufgehört, zu schluchzen und ihm gezeigt, was sie in der Tasche ihres Kleidchens verbarg wie einen kostbaren Schatz. Diese Nachricht an Mama und Papa, die sie in ihrer schönsten Kinderschrift geschrieben hatte; heimlich, am Abend vorher, unter der Bettdecke.
    Es war nicht erwünscht, dass die Kinder Botschaften an Verwandte schickten, und jeder Brief wurde vor dem Absenden sorgfältig kontrolliert. Melissa hatte Matthias erzählt, dass sie nicht wusste, wie sie ihre Eltern erreichen konnte, sie hatte keine
Adresse, besaß keinen Umschlag und auch kein Geld für eine Briefmarke. Dann hatte sie wieder zu schniefen begonnen, und weil das kleine Häufchen Elend ihm fast das Herz brach, beschloss er, sich der Sache anzunehmen; auch wenn er sich sonst aus den Angelegenheiten der anderen heraushielt, um sich selbst zu schützen.
    Die Kleine erinnerte sich nicht an
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