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Sensenmann

Sensenmann

Titel: Sensenmann
Autoren: Clausia Puhlfürst
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winzigen Zuckertütchen und rollte es dann zusammen.
    »Ich denke schon. Kein kleines Kind denkt sich so etwas aus. Andere Heimkinder, die wir inzwischen befragt haben, bestätigen dies. Du hast ja selbst mit einigen von ihnen gemailt. In Matthias’ Erinnerung haben sich die Erzieher nur den Mädchen zugewandt. Er selbst hat nur undeutliche Erinnerungen an Züchtigungen und Missbrauch, denn seine Person wurde geschaffen, um Rache zu üben, nicht um Leid zu ertragen. Er hat fünf seiner Peiniger erwischt, die letzte, eine Frau Gurich, hat er einfach mitten in einem Park in Chemnitz abgeschlachtet, am helllichten Tag, ohne sorgfältige Vorbereitung, ohne auf eventuelle Spuren oder Zeugen zu achten. Ich glaube, er wusste selbst, dass ihm nicht mehr viel Zeit zur Rache bleiben würde.«
    Lara nickte gedankenvoll. Erst nach und nach hatte man die Taten und Opfer systematisieren und vergleichen können.
    Mark sprach inzwischen weiter. »Um die Schmerzen und das Leid aufzufangen, gab es die anderen: Mandy, Melissa, Michaela. Andere haben andere Seiten der Persönlichkeit ausgelebt. Für Liebe und Sex war Mary zuständig. Sie war es auch, die sich an deinen Kollegen rangemacht hat. Die anderen haben das missbilligt und sich deswegen geschämt. Sobald Mary nicht mehr ›on stage‹ war, versuchten einige von ihnen, das Geschehen zurückzudrehen. Matthias hingegen hat die E-Mails geschrieben und
die Einträge in den Foren gepostet. Über Sebastian Wallau bekamen sie Kontakt mit anderen Heimkindern, und so konnten sie ihre Beweisliste mit Namen und Taten vervollständigen.« Mark blickte in Laras Augen, die im Licht der Herbstsonne fast violett wirkten. Sein Herz machte ein paar langsame Schläge, die in der Brust schmerzten. »Im Moment wird noch einmal das gesamte Gelände des ehemaligen Kinderheims auf den Kopf gestellt. Die Kripo hält sich sehr bedeckt, aber soweit ich weiß, wurden Spuren gefunden.«
    »Spuren?«
    »Nun, um ehrlich zu sein, es handelt sich um Knochenfragmente und reichlich Asche. Es wird schwierig werden herauszufinden, von wem die Überreste stammen und wann sie verbrannt wurden.«
    Lara nahm ihre Strickjacke vom Nachbarstuhl und zog sie an. Sie fror plötzlich. »Irgendwie habe ich Verständnis für das, was Maria/Matthias getan hat.«
    »Das wiederum verstehe ich sehr gut.« Mark lächelte erneut sein schiefes Lächeln, und Lara dachte, dass ihr noch nie aufgefallen war, dass sein linker Schneidezahn ein wenig schief stand. »Und doch … Sie hatte eine Liste mit weiteren Erziehern und deren Taten, die sie nacheinander ›abarbeiten‹ wollte. Es ist gut so, wie es gekommen ist.«
    »Vielleicht hast du recht.« Lara leerte ihre Tasse und schielte wieder auf das Handydisplay. Noch immer keine Nachricht.
    »Wie geht es in der Redaktion vorwärts?«
    »Es ist schwer. Tom ist jetzt der Redaktionsleiter, seit Hampenmann nach Berlin gegangen ist, und fühlt sich mächtig. Aber ich habe das Gerichtsressort zurück. Er kann sich ja schließlich nicht um alles selbst kümmern, nicht?«
    »Dass du den Artikel über den Fall Sandmann an eine andere Zeitung verkauft hast, nimmt er dir bestimmt immer noch übel, oder?«

    »Das kannst du laut sagen. Allerdings habe ich etwas gegen ihn in der Hand. Falls er mal wieder den dicken Max markieren sollte.« Das Handy piepte zweimal kurz, und Lara nahm es vom Tisch. Das Plastikgehäuse war sonnenwarm. Sie kippte es, sodass Mark die Nachricht nicht sehen konnte, und las. »Bleibt es bei heute Abend? CU, Jo.« Lara lächelte. Dann winkte sie der Schwarzhaarigen, um zu bezahlen. »Danke, dass du mir alles erklärt hast, Mark. Jetzt muss ich los. Ich habe heute noch etwas vor. Wir telefonieren. Grüß deine Frau.«
    Marks Augen verdunkelten sich, als Lara aufstand und ihm einen Kuss auf die Wange drückte.
    Sein Blick fiel auf die beiden leeren Espressotassen, und er fürchtete sich ein bisschen vor dem Heimkommen.
    Sie ging davon, voller Schwung. Ihr helles Haar, das in der Sonne wie flüssiges Gold schimmerte, schwang bei jedem Schritt leicht mit, während in Marks Kopf das Electric Light Orchestra Midnight Blue spielte.
    I see the lonely road that leads so far away,
I see the distant lights that left behind the day.
But what I see is so much more than I can say.
And I see you in midnight blue.

Die Handlung und alle handelnden Personen sind frei erfunden. Jegliche
Ähnlichkeit mit lebenden oder realen Personen wäre rein
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