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Sensenmann

Sensenmann

Titel: Sensenmann
Autoren: Clausia Puhlfürst
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er fort. »Die Patientin hat Depressionen und Angstzustände. Sie zeigt selbstverletzendes Verhalten, das heißt, sie schneidet sich in die Haut. Man nennt das auch ›Ritzen‹. Ich vermute, dass sie auch eine Essstörung
hat. Auch das gehört in den Bereich des autoaggressiven Verhaltens.«
    »Das kommt mir auch so vor.« Lara dachte daran, wie Maria Sandmann in der Kantine die Salatblätter hin- und hergeschoben hatte und wie dünn sie war.
    »Dazu treten bei Maria Sandmann Flashbacks auf, das sind Erinnerungsbilder traumatischer Erfahrungen, ausgelöst durch scheinbar neutrale Reize. Ich hatte sie gebeten, dies zu dokumentieren.« Mark zeigte auf das Notizbuch. »Ab und zu hört sie auch Stimmen und hat hier notiert, was diese zu ihr sagen.«
    »So wie Schizophrene?« Jo rieb die Fingerspitzen aneinander, während er sprach. »Die hören doch auch Stimmen, die ihnen Befehle geben, oder?«
    »Ja und nein. Du hast recht, dass bei Schizophrenie auch oft Stimmen wahrgenommen werden. Aber in diesem Fall ist das nicht die passende Krankheit. Maria Sandmanns Stimmen geben auch gar keine Anweisungen, sondern kommentieren ihr Tun oder beleidigen sie.«
    »Was hat sie denn dann?« Lara sah zur Uhr und fragte sich, wo die Polizei blieb.
    »Es ist komplizierter.« Mark musterte noch einmal seine Notizen. »Zu all dem kommt noch eine Art Gedächtnisverlust. Manchmal scheinen ihr Stunden oder gar Tage verlorenzugehen, und sie kann sich nicht daran erinnern, was sie in dieser Zeit gemacht hat. Und sie verhält sich sehr widersprüchlich. Das ist sogar Lara schon aufgefallen.« Mark sah kurz hoch, und Lara nickte ihm zu. »Manchmal ist sie wie ein Kind, manchmal eine kühle, distanzierte Person, zu anderen Zeiten wieder eine Art männermordender Vamp. Und doch ist sie unfähig, sich an wichtige persönliche Informationen zu erinnern. Diese ›Vergesslichkeit‹ ist weit umfassender als das, was wir gewöhnlich als Gedächtnisschwäche kennen.«
    »Und was soll das bitte für eine Krankheit sein?«

    »Tja«  – Mark machte eine Pause  –, »genau deshalb habe ich mir auf Thorwalds Hinweise hin auch ihre Aufzeichnungen noch einmal angeschaut. Seht selbst.« Er schlug das Notizbuch auf, blätterte und deutete auf mehrere Seiten. »Seht ihr? Ganz unterschiedliche Schriften.« Lara wünschte sich, das Dickicht in ihrem Kopf möge sich lichten. Jo schaute verstört auf die Sätze.
    »Also um es kurz zu machen: Maria Sandmanns Krankheitsbild ist der klassische Fall einer dissoziativen Identitätsstörung, im Volksmund besser bekannt als multiple Persönlichkeit.«
    »Eine Multiple?« Jo zog den Kopf zwischen die Schultern.
    »Ganz genau. Solche Patienten bestehen aus zahlreichen unterschiedlichen Innenpersonen, die abwechselnd die Kontrolle über ihr Verhalten übernehmen. An das Handeln der jeweils ›anderen‹ Personen kann der Betroffene sich entweder gar nicht oder nur schemenhaft erinnern.«
    »Wie? In einer Frau stecken verschiedene andere? Wie bei einer dieser russischen Puppen?« Jo hatte noch immer einen ungläubigen Blick.
    »So ähnlich kannst du es dir vorstellen.«
    »Wie soll denn das funktionieren?«
    »Nun, die unterschiedlichen Persönlichkeiten sind abwechselnd, aber nie gemeinsam sichtbar. Sie besitzen getrennte Gedanken, Erinnerungen und Verhaltensweisen. Den Wechsel von einer Person zur anderen können sie selbst meist nicht wahrnehmen, und das Handeln der einzelnen Persönlichkeiten unterliegt oft vollständiger Amnesie.«
    »Das heißt, eine weiß nicht, was die andere macht?« Lara schüttelte abwesend den Kopf. »Ich habe mal einen Film gesehen, Dorothy Mills hieß der. Da ist etwas Ähnliches vorgefallen. Aber ich dachte immer, multiple Persönlichkeiten sind eine Erfindung zu ambitionierter Psychiater.« Erst als sie es ausgesprochen hatte, bemerkte Lara, was sie da gerade gesagt hatte, und lächelte Mark entschuldigend an. »Du bist natürlich nicht gemeint.«

    »Das denken viele. Es ist auch bis heute eine der umstrittensten psychiatrischen Diagnosen. Aber als Arbeitshypothese finde ich es am passendsten, denn es erklärt alle auftretenden Symptome, auch die Stimmen, die sie ab und zu hört. Manche Innenpersonen ›kommentieren‹ das Tun der derzeit agierenden Person, und das nimmt sie als Stimme im Kopf wahr.«
    »Was denkst du, wo sie jetzt ist?« Jo musterte den Rucksack, den er vorhin einfach auf den Boden gelegt hatte.
    »Ich glaube, sie versteckt sich irgendwo. Wahrscheinlich weiß die
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