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Sensenmann

Sensenmann

Titel: Sensenmann
Autoren: Clausia Puhlfürst
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später gemerkt, dass sie unter der Wacholderhecke eingeschlafen war. Fast wie Dornröschen. Jetzt, wo ihr Bruder Matthias zurückgekehrt ist, ist sie aufgewacht.« Michaela lächelte stärker. »Es gibt noch ein paar andere, aber die stelle ich dir das nächste Mal vor, damit es nicht zu viel wird. Nicht alle sind Kinder, und nicht alle sind nett. Mary zum Beispiel ist eine Schlampe. Wenn sie ›on stage‹ ist  – so nennen wir es, wenn einer von uns das Ruder übernimmt  –, wirft sie sich jedem Mann in ihrer Nähe an den Hals. Außerdem säuft sie wie ein Loch. Aber ich quatsche zu viel. Komm mit.« Sie zog Mia hinter sich her. »Zwei sollst du noch kennenlernen.« Gemeinsam gingen sie zu einer hell beleuchteten Stelle, an der ein Mann mit gebeugtem Rücken am Tisch saß.
    »Mia  – darf ich dir Matthias, unseren Beschützer, vorstellen?« Michaela machte einen Knicks und schubste Mia ein bisschen dichter an den Tisch. »Matthias  – sag hallo zu unserer Mia.« Der Mann drehte sich halb herum und sah Mia lange in die Augen. Dann streckte er die Hand aus. Feine Lachfältchen zerknitterten seine Augenwinkel. »Hallo, kleine Mia.«
    »Er hat Sorgen. Wahrscheinlich wird er bald eingesperrt und kommt vor Gericht.« Michaela seufzte kurz. »Wir sind trotzdem stolz darauf, was er getan hat. Es war richtig. Und wir sind ja immer bei ihm und können ihm in den schweren Zeiten beistehen.«
    »Habt ihr meine Briefe an Mandy gelesen?« Er richtete sich auf, ächzte und streckte die Arme über den Kopf, und Mia konnte sehen, wie groß und stark er war.

    »Sie hat sie mir anvertraut. Ich habe sie bei mir.« Michaela zeigte auf ihre Umhängetasche. »Mia und ich lesen sie nachher gemeinsam. Sie ist noch ein bisschen verwirrt über das Ganze.«
    Matthias lächelte sie an und legte Mia dann den Arm um die Schulter. »Bis gestern wusste ich auch nicht, wer hier noch alles ist. Ich war immer nur auf der Suche nach meiner Schwester Mandy. Und jetzt habe ich auf einmal ganz viele Geschwister. Ich freue mich darauf, euch alle näher kennenzulernen. Wir werden später noch viel Zeit haben, uns zu unterhalten. Jetzt muss ich mich leider um andere Dinge kümmern.«
    »Das ist in Ordnung.« Mia hörte sich selbst sprechen und wunderte sich darüber, wie furchtsam sie sich anhörte. »Bis bald, Matthias.«
    Michaela zog sie vom Tisch weg, ging ein paar Schritte und zeigte auf eine zierliche blonde Frau mit Pagenkopf, die zusammengesunken auf einer Art Sessel saß. » Und das ist Maria Sandmann  – unser Host. So nennen wir die Person, die ihren Körper für uns zur Verfügung stellt und den normalen Alltag bestreitet. Sie ist sich nicht bewusst, dass wir alle da sind. Es würde sie auch überfordern. Aber sie hat ihre Sache bis jetzt gut gemacht. Wenn du möchtest, kannst du für einen Augenblick das Ruder übernehmen. Möchtest du? Dann los!«
    Michaela gab ihr einen Schubs, und Mia trat für einen Moment ins Rampenlicht und blickte durch die Augen der Gastgeberin nach draußen. Sie sah einen großen, schlanken Mann mit Hakennase, der sie nachdenklich betrachtete. Er schien auf etwas zu warten.
    Die Luft schien zu oszillieren, und Mia kehrte zurück zu ihrer wiedergefundenen Freundin. »Wer ist das?«
    » Unser Psychotherapeut, Doktor Grünthal. Du kannst ihm vertrauen. Er will uns helfen.« Michaela grinste schelmisch. »Sein Vorname beginnt auch mit einem M, genau wie bei uns. Das ist ein Zeichen, nicht? Wenn er uns anspricht, redet meistens einer von den Großen mit ihm. Und jetzt lass uns einen Kakao trinken und
ein paar Kekse essen. Die managen das schon.« Arm in Arm gingen sie davon.

48
    »Wie geht es denn nun weiter?« Lara betrachtete die vorbeiflanierenden Menschen. Es war fast schon ein bisschen zu kalt, um im Straßencafé zu sitzen, aber Mark hatte es sich so gewünscht. Ihr gemeinsames Erlebnis brauchte einen Abschluss. Nur dass Jo heute nicht dabei war. Jo hatte Termine, und so war Lara allein nach Berlin gefahren.
    »Die Begutachtung wird noch eine geraume Zeit dauern. Und ich bin ja auch nicht der einzige Gutachter. Ich glaube, so einen Fall hatten wir in Deutschland noch nie.« Mark strich sich über die Haare. »Es gibt hier außer Thorwald Friedensreich auch keine Experten auf dem Gebiet dissoziativer Identitätsstörungen. Das wird also nicht ganz einfach. Eigentlich dürfte man nur Matthias Hase verurteilen, aber wie soll das gehen? Die anderen sind ja auch alle in diesem Körper, darunter auch
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