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Sensenmann

Sensenmann

Titel: Sensenmann
Autoren: Clausia Puhlfürst
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besonders viele Details, nur dass ihre Mama sehr krank geworden war und der Vater jeden Tag Bier und Schnaps getrunken hatte. Irgendwann war die Mutter in eine psychiatrische Klinik  – Melissa sagte »Klapse« und Matthias hörte die verächtliche Stimme ihres besoffenen Vaters heraus  – eingeliefert worden. Der Vater war anscheinend schnell mit den Kindern überfordert gewesen. Und so war sie hier gelandet. Sie hatte keine Ahnung, was mit ihren beiden älteren Schwestern geschehen war. Dann hatte sie wieder zu weinen begonnen.
     
    Matthias faltete den Brief vorsichtig, um ihn nicht weiter zu beschädigen, und legte ihn in die geschnitzte Schatulle zurück. Draußen hupte ein Auto. Ein salziger Schweißtropfen rann an seiner Stirn herunter und bog an der Augenbraue rechts ab.
    Melissas Brief hatte ihre Eltern nie erreicht, obwohl er ihr das hoch und heilig versprochen hatte, nachdem die Tränen versiegt waren. Matthias hatte ihr geschworen, ihn sicher für sie aufzubewahren, weil sie glaubte, dass er dies besser könne als sie. Keiner der Schränke war abschließbar, immer wieder verschwanden Sachen, aber die Älteren hatten fast alle irgendwo ein Versteck.
    Es war ihm nie gelungen, herauszufinden, wo Melissas Eltern lebten oder was mit ihren Schwestern geschehen war. Und so war dieser Brief bis heute bei ihm geblieben. Eines aber hatte sich damals verändert  – seit der Begegnung im Schlafsaal hatte Matthias Hase die kleine Melissa in sein Herz geschlossen und bemühte sich, so gut er konnte, sie zu beschützen.

    Es waren damals nicht nur die Erzieher. Auch die Kinder, besonders die älteren unter ihnen, konnten grausam zueinander sein. Das schien unlogisch, schließlich wäre es für sie alle sinnvoller gewesen zusammenzuhalten, sich gegen die Willkür der Erwachsenen gemeinsam zur Wehr zu setzen, aber Logik funktionierte hier nicht. »Fressen oder gefressen werden« war die Devise. Entweder man hielt das alles aus oder man zerbrach. Matthias hatte es ausgehalten.
    Aber jetzt, fast dreißig Jahre später, war es an der Zeit, Gleiches mit Gleichem zu vergelten. Bedächtig schmeckte er den letzten Schluck Cola, ehe er den Computer einschaltete. Den Kindern im Heim vergab er ihre Bosheiten. Schließlich kannten die meisten von ihnen es nicht anders. Einige stammten aus Elternhäusern, in denen Schläge, Misshandlungen, Beleidigungen und Vernachlässigung an der Tagesordnung gewesen waren. Die Ungewollten waren schon im Babyalter fortgegeben worden. Andere waren krank oder schwer therapierbar  – ab mit ihnen ins Heim. Ältere hatten die Schule geschwänzt, gestohlen oder einfach nur die falsche Musik gehört. Woher hätten diese Kinder und Jugendlichen wissen sollen, wie man sich »normal« verhielt? Und nicht zu vergessen  – sie alle waren Kinder gewesen. Nein, den anderen Kindern konnte er verzeihen, nicht aber den Erziehern. Vor allem die Kleinen hatten es schwer gehabt. Sie waren eine leichte Beute für die Erzieher, konnten sich kaum zur Wehr setzen und litten meist schweigend. Melissa war es besonders schlecht ergangen, gerade weil sie so zart und klein gewesen war. Es war ein Glück für sie gewesen, dass ihr Aufenthalt nur ein halbes Jahr gedauert hatte.
    Matthias hatte nie wieder etwas von ihr gehört. Die Erzieher erteilten den Kindern keine Auskunft, aber es gab nur zwei Möglichkeiten: Entweder war Melissa adoptiert worden  – von liebevollen Pflegeeltern, die sich genau so ein kleines Mädchen immer gewünscht hatten  – oder ihre Mutter war gesund geworden und
hatte sie wieder zu sich genommen. Matthias’ Gedächtnis hatte zwar die Szene mit dem Brief bis ins kleinste Detail behalten, aber vieles von dem, was danach passierte, war verwischt, unscharf wie ein zu lange belichtetes Foto.
     
    Der Rechner summte. Es war an der Zeit, ein wenig zu recherchieren. Wie jedes Mal gab er zuerst Namen und Ort des Kinderheims in die Suchmaschine ein, um festzustellen, ob neue Artikel erschienen waren, und wie immer war das nicht der Fall.
    Matthias Hase lehnte sich kurz zurück und schloss die Augen. Dann hämmerte er den Namen der Frau in die Tasten, die den Spitznamen »Walze« gehabt hatte  – Isolde Semper.
    Während sein Blick über die Einträge huschte, zischelte die eisige Stimme der Gesuchten durch seinen Kopf und befahl: »Du isst das jetzt auf, sofort!« Ein klatschendes Geräusch. Der rote Abdruck einer Handfläche in einem Kindergesicht. Tränchen kullerten über rosige
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