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Semmlers Deal

Semmlers Deal

Titel: Semmlers Deal
Autoren: Christian Mähr
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hat gelogen, ganz einfach. Sie hat ja auch gelogen, als sie sich für meine Haushälterin ausgegeben hat.«
    »Aber Herr Pfarrer, das ist nicht möglich ... ich war dort! Zweimal! Und das ist keine fünf Jahre her!«
    Er war, ohne es zu wollen, laut geworden. Die Stimmehallte in der leeren Kirche. Den Pfarrer schien es nicht zu stören. Auch er hob die Stimme.
    »Sie wissen das so genau! Da ist noch etwas anderes, oder? Sie haben diese Frau fleischlich erkannt?«
    »Ich habe was? Ach so ... wenn Sie so wollen ... ja, da haben Sie recht. Fleischlich erkannt, und wie!« Semmler fing an zu lachen. Auch der Pfarrer lachte, es dröhnte vom Gewölbe. Er hörte ebenso schnell auf, wie er begonnen hatte.
    »Offensichtlich handelt es sich um eine simple Verwechslung«, sagte er. »Das war eine Siedlung, sagen Sie. Einfamilienhäuser?«
    »Nein, Wohnblöcke ...«
    »Da haben wir es. Die sehen doch alle gleich aus. Die Erinnerung spielt Ihnen einen Streich. Sie haben im falschen Haus gesucht.«
    »Nein, Herr Pfarrer.« Semmler stand auf, der Schmerz im Bein meldete sich. »Ich habe mich nicht geirrt, ich erinnere mich ganz genau, wo ich war.«
    »Dann bleiben nur zwei andere Möglichkeiten.«
    »Welche?«
    Der Pfarrer hielt mit der Arbeit inne.
    »Erstens eine Halluzination. Beliebigen Ausmaßes, verstehen Sie?«
    »Offen gesagt, nein ...«
    »Einbildung! Sie waren nie in dieser Siedlung, sondern woanders! Vielleicht haben Sie auch nie erlebt, was Sie glauben, dort erlebt zu haben. Oder, noch weiter ausgeholt – vielleicht war auch diese Frau ... Mieß...«
    »Mießgang ...«
    »... diese Mießgang nicht real. Sie können hier die Grenze setzen, wo Sie wollen.«
    »Würde heißen, dass ich verrückt bin ...«
    »Kommen Sie sich verrückt vor?«
    »Nein ... nein, sicher nicht!«
    »Es gibt seit Tausenden von Jahren ganz einfache Worte für das, was Sie erlebt haben. Eines davon ist ›Trugbild‹, griechisch ›dokesis‹ ... aber das wird philosophisch schwierig ...«
    »Lassen Sie die Philosophie einfach weg! Also: Wodurch unterscheidet sich ein Trugbild von einer Halluzination?«
    »Die ›Halluzination‹ kommt vom lateinischen ›alucinatio‹, das heißt ›Faselei, Träumerei‹, und das wiederum stammt vom griechischen ›aly´ein‹ ab, das heißt ›außer sich sein‹ aber auch ›unstet umhergehen, herumschweifen‹ ...«
    »Ich sehe schon, dass Sie ein gebildeter Mann sind, Herr Pfarrer ...«
    »Na, hören Sie doch einfach zu, ja? Aus den Worten, dem lateinischen, wie auch aus der griechischen Wurzel geht doch schon hervor, dass es eher eine private Sache ist – ›Gefasel‹ ebenso wie ›außer sich sein‹. Auch ›unstet herumschweifen‹ tut man selber ohne Beziehung zur Außenwelt. Es kommt also aus dem eigenen Gehirn, wie wir heute sagen ...«
    »Ein Trugbild dagegen – kommt nicht aus dem eigenen Kopf?«
    »Es wird hartnäckig geleugnet! Für den Menschen der Gegenwart kommt alles aus dem Zusammenspiel der Nervenzellen – alles Biochemie und Physiologie et cetera. Ein von außen intentional – das ist wichtig! – initiiertes Trugbild kann es in dieser Weltsicht gar nicht geben! Wenn Ihnen also in dieser Kirche ein Engel des Herrn erschiene in all seiner Pracht, dann würde Ihnen das niemand glauben.Man würde es als unmöglich erachten, Ihnen so ein Bild vorzugaukeln – bei den heutigen technischen Möglichkeiten.«
    »Worauf wollen Sie hinaus?«
    »Auf das absichtlich erzeugte Trugbild.«
    »Sie meinen so ein ... wie heißt das ... Laser ... Hologramm? Das gibt’s doch nur im Film ...«
    »Herr hilf! Sie klammern sich da an die technische Realisierbarkeit, die ist doch völlig egal! Auf die Herkunft kommt es an, auf die Absicht! Was ist das für eine Verarmung: Wenn die Menschen heute etwas sehen, was nicht sein kann, sitzen Sie entweder im Kino – oder sie glauben, dass sie verrückt sind. Etwas anderes gibt es nicht ... etwas tatsächlich Paranormales wird nicht akzeptiert. Wenn so was auftritt, ist mit dem Hirn etwas nicht in Ordnung. Oder aber sie fragen sich: wie haben die das gemacht? Nicht etwa: Wer gaukelt mir hier was vor? Und warum? Nein, gefragt wird nach dem ›wie‹! – Als im dritten Jahrhundert die gnostische Häresie aufkam, waren die meisten von denen Doketisten, von eben jenem griechischen ›dokesis‹; sie glaubten, der Tod Jesu sei eine Vorspiegelung gewesen, eine Art Theater; es sei damals ein Scheinleib gekreuzigt worden. Natürlich hat von denen nie einer gefragt: wie hat
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