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Semmlers Deal

Semmlers Deal

Titel: Semmlers Deal
Autoren: Christian Mähr
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er sich auch das Tagwerk des Bürgermeisters nicht vorstellen konnte. Wieso öffnete die Haushälterin nicht? Weil sie, gab er sich selbst die Antwort, nicht den ganzen Tag in diesem Haus arbeitete, nur stundenweise, nicht einmal Don Camillo hatte eine Full-time-Kraft zu Verfügung gehabt. Jetzt war das Taxigeld ausgegeben und nichts erreicht.
    »Der Pfarrer ist in der alten Kirche.« Die Stimme kam von der Seite. Eine Frau mittleren Alters am Zaun zum Nachbargrundstück. Sie trug Gummistiefel, Arbeitshandschuhe, stütze sich auf eine Hacke. Semmler trat auf sie zu. Er sei, fuhr die Frau fort, um diese Zeit meistens dort. Dann schwieg sie, schien unschlüssig, ob das Verhalten des Pfarrers diesem Fremden gegenüber zu kommentieren sei. Sie verkniff es sich, beschrieb den Weg zur alten Kirche, warf einen langen Blick auf den Stock an seiner Seite. Das ginge schon, beeilte er sich zu versichern, er wisse auch, wie er dahin komme, bedankte sich für die Auskunft und ging so flott wie möglich an ihrem Garten vorbei die Dorfstraße hinunter, ließ den Stock vor jedem Aufsetzen durch die Luft schwingen und war fast so schnell wie ein Gesunder. Etwa hundert Meter weit, dann tat das Bein so weh, dass er stehen bleiben musste. Mit einer Krücke wäre es besser gewesen, mit dem Stock sah er nicht ganz so gebrechlich aus. Er gab sich Mühe, den Marsch durch Tisis wie einen Spaziergangaussehen zu lassen, blieb oft stehen, betrachtete die Vorgärten, in denen zwischen den Frühblühern die letzten Schneeflecken schmolzen. Der Schmerz ließ nach, verschwand aber nicht. Das Bein nahm jede Überanstrengung übel. Es wurde nicht mit jedem Schritt schlimmer, tat aber so weh, dass er nur langsam vorankam. Der Marsch von der neuen zur alten Tisner Kirche lag am äußeren Rand dessen, was er noch gehen konnte. Zwei Kilometer vielleicht.
    Die Straße führte abwärts bis zum Dorfbrunnen, dann bog sie links zur Bahn ab. Er brauchte eine halbe Stunde bis zur Kirche. Ihr grauer Südturm ragte hoch über die weite Ebene, auf drei Seiten eingefasst von Bergen, die höchsten Gipfel im Süden, die Alviergruppe in der Schweiz. Die Berge umgaben die Riedebene wie ein Halbkreis; im Mittelpunkt, so konnte man sich einbilden, lag die Kirche. Es gab Ansichtkarten davon vor den verschiedenen Gebirgshintergründen, malerisch.
    Semmler kam durch das Tor auf den Friedhof. Kein Mensch zu sehen. Semmler ging um den Chor herum auf die Westseite. Zwischen Außenwand und Umfassungsmauer blieb dort kaum ein Schritt weit Platz, das Gelände fiel hinter der Mauer steil ab.
    Der Fleck war noch da. Eine kaum sichtbare rötliche Färbung, mehr zu ahnen als zu sehen. Es war ihm erst beim Betreten des Friedhofs wieder eingefallen. Vor vielen Jahren, als er das erste Mal um diese Kirche herumgegangen war, hatte er die kleine Gedenktafel an der schmucklosen Nordwestseite entdeckt, ohne die ihm der Fleck schon damals nicht aufgefallen wäre. Er hatte ihn einem Freund gezeigt oder einer Freundin, er konnte sich nicht mehr erinnern. Irgendjemandem hatte er den Fleck gezeigt – genau an derStelle, wo laut Inschrift im Jahre zweiundvierzig ein jüdischer Anwalt seine Familie erschossen hatte, die Frau und die zwei Mädchen, dann sich selber. Weil die Flucht hier zu Ende war, die Grenze zu Liechtenstein, keinen Kilometer entfernt, zu gut bewacht. Und der Fleck, das musste dann doch Blut sein.
    Aber der Irgendjemand hatte den Fleck nicht gesehen.
    Der Fleck war noch da. Unverändert. Man musste, um ihn zu sehen, ein wenig von der Seite schauen, das schon ... er ging daran vorbei. Unwahrscheinlich, dass die Färbung vom jüdischen Originalanwaltsblut stammte oder von der Frau oder den Kindern; man hätte nach fünfundvierzig sicher drüber verputzt, die Farbe, die er sah, kam vielleicht von einer Beimengung in eben diesem Putz.
    Die Tür stand offen. Er trat ein. Der Pfarrer stand mit dem Rücken zur Tür und hantierte an einem der mannshohen Kerzenständer.
    »Herr Pfarrer!«, sagte Semmler in die Kirche hinein.
    Der Pfarrer drehte sich um, in der Hand hielt er einen weißen Putzfetzen.
    »Ja?«, sagte er.
    Es überraschte ihn, wie jung Pfarrer Moser war. Er hatte den Mann nie gesehen, sich aber einen älteren Herrn vorgestellt, deutlich über dem für Normalbürger geltenden Pensionsalter.
    »Pfarrer Moser?«
    Der Pfarrer brummte Unverständliches und wandte sich wieder seiner Arbeit zu. Semmler kam durch den Mittelgang auf ihn zu. Pfarrer Moser schien kein kommunikativer
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