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Semmlers Deal

Semmlers Deal

Titel: Semmlers Deal
Autoren: Christian Mähr
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geistiger Gesundheit. Er betrachtete sie von der Seite, er durfte das unter den gegebenen Umständen, das war nicht aufdringlich, sondern Zeichen der Fürsorge. Ehe er losfuhr, musste er sich doch überzeugen, dass sie transportfähig war, nicht auf der Fahrt kollabierte oder so ... sie war blass, aber normal blass, nicht leichenblass oder kalkweiß; er kannte sich aus, er hatte bei seinem Zivildienst als Sanitäter Leute in solchen Umständen gesehen, diese Blässe hier war in Ordnung.
    Mittelgroß, braunes Haar, Anfang dreißig, höchstens. Aber nicht gut aussehend. Das überraschte ihn. Es gab in diesem Alter keine Frauen, die nicht gut aussahen. Es gab schöne Frauen und hässliche (sehr selten), aber keine nicht gut aussehenden. Das fiel ihm jetzt auf, als eine neben ihm saß. Was war das Kriterium? Ob ich, dachte er, mir vorstellen könnte, mit ihr ins Bett zu gehen. Das war die Definition von »gut aussehend«. Bei dieser hier nicht der Fall. Schmales Gesicht, große dunkle Augen und volle Lippen. Die Details nicht übel, jedes für sich betrachtet, hatte etwas Anziehendes, nur der Gesamteindruck stieß ihn ab; über allem der Eindruck von etwas Widerlichem, das nicht hergehörte; und nicht aus unglücklichem Zufall, sondern aus Absicht, als hätte man die Früchte eines Stillebens mit einer dünnen, eben noch wahrnehmbaren Dreckschicht überzogen.
    Die Kleidung konnte er nicht zuordnen, dafür hatte er kein Auge; grüner Anorak über einem mausgrauen T-Shirt, ein blauer Rock und rote Sportschuhe. Die konnten teuer sein oder billig, das wusste er nicht, er besaß keine solchen Sachen, kannte die Codes nicht.
    »Wohin soll ich Sie bringen?«, fragte er.
    »Ich weiß nicht ... machen Sie sich keine Mühe ... ich sollte das melden ... mit dem Auto ...« Sie suchte in der Handtasche herum. »Ich hab mein Handy verloren! Ich hab das Handy verloren!« Sie begann zu schluchzen, blickte ihn von der Seite an, unterdrückte das Geräusch, während er in seinem Jackett nach Papiertaschentüchern suchte. Er gab ihr eines.
    »Tut mir leid«, sagte er, »das mit dem Auto.«
    »Das Handy hab ich verloren«, sagte sie, schüttelte denKopf. Eine reichlich unangemessene Reaktion, ihr Auto weg, aber sie beklagte den Verlust des Handys, das war wohl irgendein psychischer Schutzmechanismus, über den er nichts wissen wollte.
    »Ich bring Sie zur Polizei«, sagte er, ehe sie wieder mit dem Weinen anfangen konnte, »und dann heim. Wo wohnen Sie?«
    »In Dornbirn, aber das ist viel zu weit, Sie müssen doch sicher ...«
    »Macht nichts«, sagte er, »ich hab Zeit.« Draußen fuhr ein großer Mazda vorbei, schwenkte nach links und hielt am Straßenrand. Semmler startete den Motor.
    »Wohin wollten Sie?«
    »Nach Mellau zu meiner Schwester.«
    »Sie hätten nicht fahren sollen unter diesen Umständen ...«
    »Ich hab nicht gedacht, dass es so schlimm wird ... und jetzt kann ich sie nicht einmal anrufen ...«
    Semmler fuhr los. Aus dem Mazda fünfzig Meter vor ihm war ein Mann ausgestiegen, der in ihre Richtung blickte und winkte. Semmler hob die Hand, was man als Winken oder verscheuchen einer Fliege deuten konnte. Als sie an dem Wagen vorbei waren, sagte er: »Sie hätten sowieso keine Verbindung, bei dem Unwetter ist das ganze Mobilnetz zusammengebrochen.«
    »Meine Schwester hat einen Festanschluss.«
    »Dann rufen wir von der Polizei aus an.«
    Im Rückspiegel sah er den Mann neben dem Mazda stehen und ihnen nachwinken. Ein Idiot.
     
    E r hat mich nicht erkannt, dachte Koslowski. Kein Wunder, wie auch. Ich bin heute dicker. Viel zu dick. Dann ging er langsam zu der Abbruchkante hinüber. Der Himmel war noch von dicken Wolken verhangen, die sich in den Pfützen spiegelten, aber es regnete nicht mehr. Es hatte drei Tage und Nächte durchgeregnet. In der Luft lag ein Tosen, das lauter wurde, je näher er an die Kante kam. Das Wasser hatte die Farbe von Milchkaffee mit etwas zu viel Milch. Die Ach war doppelt so breit wie sonst und viel tiefer. Auf der anderen Seite des Flusses stand das Ufergebüsch in einem See, dort konnte sich das Hochwasser in die Wiesen ausbreiten fast bis zum gegenüberliegenden Hang.
    Auf der Seite, auf der er stand, lag das Gelände höher, hier war alles in Ordnung bis auf das abgebrochene Stück Straße, zwei Meter breit und dreißig Meter lang, wie ein langer Span; es war nicht zu sehen, warum der Fluss das Ufer genau an dieser Stelle unterspült hatte, nichts Besonderes, keine Kurve, nicht einmal leichte
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